Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band I
Siebzehn Gruselgeschichten       ©  2005  Heike Hilpert, Selbstverlag
 Titel
 Vorwort
 Inhalt
 Der Mann mit dem Messer
 Das Gespensterschloss
 In Trance
 Der untrügliche Beweis
 Eine ungewöhnliche Hochzeitsnacht
 Der Whiskyvampir
 Spieglein, Spieglein an der Wand
 Die Sterne lügen nicht
 Blumen für Mr Carmichael
 Der Schlüssel
 Ein eleganter Pelz
 Maskerade
 Das Bauopfer
 Das Leben nach dem Tode
 Television City
 Der Vegetarier
 Im Schatten
 Information zur Autorin
 Literaturhinweis
 Impressum
Blumen für Mr Carmichael

  Sind Sie ein Blumenfreund, mein hochverehrter Leser? Wenn ja, so werden Sie für unseren armen Mr Carmichael sicherlich kein Verständnis haben, denn Mr Jeremy Carmichael hasste Blumen. Waren sie aus Stoff, Plastik oder Wachs, hatte er nichts an ihnen auszusetzen. Kam er jedoch mit echten Pflanzen in Berührung, erlitt er sofort einen allergischen Schock. Der Duft frischer Blüten machte ihn krank. Der aromatische Geruch verursachte bei ihm einen Kitzel in der Nase und ließ seinen Hals schwellen, bis er zu ersticken drohte.
  Deshalb war das ganze Leben für ihn eine einzige Qual. Er mied Parks und Gärten und machte einen großen Bogen um Blumenläden, vor allem aber um Friedhöfe und ihre vom modrigen Geruch welkender Gebinde geschwängerte Luft. Doch das Schlimmste waren die Familienfeiern, denen er ja leider nicht immer aus dem Wege gehen konnte. Da standen dann stundenlang all die leuchtenden, abscheulich süß riechenden Blumensträuße herum, und wenn es besonders arg kam, war einer davon auch noch auf der Tafel direkt vor seiner Nase platziert. Freilich endete jedes Fest für ihn in einem Hospital.
  Jeremy war ein attraktiver Mittvierziger von hünenhafter Statur. Er hatte markante Gesichtszüge und treue, dunkelblaue Augen sowie eine schwarze Löwenmähne mit silbernen Strähnen und eisgrauen Schläfen. Außerdem war er geistreich und kein schlechter Unterhalter, besaß ein Häuschen und ein nettes Sümmchen obendrein. Bei Frauen war Jeremy stets begehrt; allerdings zerbrach jede Beziehung aus dem eingangs erwähnten Grund.
  Zum Beispiel beschenkte er Emily, seine Jugendliebe, beim ersten Rendezvous mit teuren Pralinen. Sie meinte aber, sie stehe nicht auf Süßes. Als Jeremy ihr beim zweiten Treffen einen prächtigen Strauß Wachsblumen überreichte, gab sie ihm statt des heiß ersehnten Kusses eine schallende Ohrfeige. Damit war dieses Kapitel abgehakt. Und Emily steht hier stellvertretend für viele, die folgten, nicht jedoch für Dorothy.
  Sie war seine große Liebe und hatte nur einen schwerwiegenden Fehler: Sie besaß eine Gärtnerei. Nichtsdestotrotz hatte sie Verständnis für sein Leiden und fand sich damit ab. Auf dem Standesamt aber raubte das duftende Bouquet, das die hinreißende Braut in der Hand hielt, Jeremy den Atem, und er vermochte leider nicht mit »Ja, ich will!« zu antworten. Das nahm Dorothy persönlich und sie verließ ihn.
  Eines Tages lud Carmichaels Chef zum Firmenjubiläum ein und bot Jeremy bei dieser Gelegenheit eine Beförderung an. In einem eigens auf seine Fähigkeiten zugeschnittenen Betätigungsfeld hätte er sich selbst verwirklichen können und wäre dafür geradezu fürstlich entlohnt worden. Das waren eigentlich großartige Zukunftsaussichten! Doch wieder einmal machte ihm seine alte Schwäche einen Strich durch die Rechnung, denn die Blüte, die sein Boss im Knopfloch trug, ließ ihn scharlachrot anlaufen und ohnmächtig daniedersinken.
  »Haben Sie das öfter, Carmichael?«, fragte der Alte mit besorgter Miene und half ihm auf. »Sie scheinen ja nicht auf der Höhe zu sein. Gehen Sie demnächst mal zum Doktor! - Über die Beförderung sprechen wir dann später«, fügte er bedauernd hinzu.
  Auch vor seinem Geburtstag graute Jeremy das ganze Jahr, insbesondere vor dem Berg von Blumen, der sich dabei stets anhäufte. Sooft er auch Freunde und Verwandte beschwor, ja nichts dergleichen anzuschleppen - sie vergaßen es wieder und wieder. Sobald die geladenen Gäste den Rücken gekehrt hatten, landeten die schönen Pflanzen freilich schnellstens in der Mülltonne.
  (In diesem Zusammenhang erinnere ich mich nur ungern an Jerrys letzten Ehrentag. Selbstsicher läutete ich an seiner Haustür und zückte stolz den wunderbar duftenden Geburtstagsstrauß. Als er sofort zu niesen begann, fiel mir ein, dass ich das Wichtigste vergessen hatte. Dadurch verdarb ich ihm den halben Tag.)
  Bekanntlich macht zwar Not erfinderisch, doch wurde Jeremy es mit der Zeit leid, sich ständig die Nase zu verstopfen, was überdies drei nennenswerte Nachteile hatte: Erstens war es ziemlich unangenehm und verursachte Kopfschmerzen. Zweitens musste er immer husten, wenn er durch den Mund atmete, so dass er am nächsten Tag stockheiser war. Und drittens machte es ihn auch nicht gerade attraktiver.
  Noch Stunden könnte ich fortfahren, kleine tragikomische Episoden aus Jeremys Leben zu erzählen. Aber ich glaube, dies genügt, um Ihnen, mein lieber Leser, klarzumachen, was Blumen für Jerry bedeuteten, wie sehr er ihretwegen litt. Anfangs hatte der Ärmste natürlich Hoffnung, dass Ärzte ihn irgendwann heilen könnten. Doch diese ohnehin nur vage Hoffnung schwand mit den Jahren und Jeremy gab den Kampf gegen die Blumen auf.

  Heute stehen wir, die wir seine Freunde waren, vereint an Mr Jeremy Carmichaels offenem Grab. Friedlich liegt sein Leichnam in einem mit floralem (!) Dekor reich verzierten Sarg. Ringsum duftet ein Meer von farbenfrohen Blüten und melancholischen weißen Lilien in liebevoll gebundenen Sträußen und Kränzen.
  Gestern Morgen, so erzählt uns Jerrys langjährige Haushälterin Mrs Hunter, habe unser Freund noch einen ausgedehnten Waldspaziergang unternommen, um Pilze zu suchen. Der Gute habe auch ausdrücklich darauf bestanden, sich das Mittagsmahl selbst zuzubereiten. Seine gewissenhafte und stets besorgte Wirtschafterin konnte freilich nicht ahnen, welch mörderisches Giftpilzsüppchen er da zusammenbraute. Die untröstliche Mrs Hunter fand ihn erst am Abend tot neben seinem leeren Teller.
  »Er kannte die Pilze gar nicht richtig, meine Liebe«, erklärt mir eine Nachbarin auf der Beerdigung.
  »Ich denke, er ist freiwillig aus dem Leben geschieden«, meine ich dazu betrübt.
  Der schwere Sargdeckel wird geschlossen. Jetzt legen wir unsere Gebinde auf Jeremys hölzerne Behausung. Blumen für Mr Carmichael - ein letztes Mal.
  Plötzlich glauben wir ein Rumoren zu vernehmen! Wir blicken uns unverwandt an. Ist da wirklich ein Geräusch? Nein, nun ist es wieder ruhig. Wir haben uns sicher getäuscht, denn unsere Nerven sind überreizt. Noch vor zwei Tagen sahen wir ihn so fröhlich und quicklebendig und heute ist er mausetot ...
  Hör nur! Erneut ein Kratzen, Scharren, Pochen, Trommeln, Niesen - ein dumpfes Niesen dringt aus dem Sarg!
  Tumult auf dem Friedhof: Die Haushälterin schreit hysterisch. Charlotte verliert ihren Hut, der Geiger seinen Bogen. Der Pfarrer kommt aus dem Konzept. Exfreundin Dorothy kippt vor Entsetzen fast aus ihren hochhackigen Schuhen. Die Sargträger öffnen den Deckel. Jeremy schnellt in die Höhe! Seine Augen treten hervor und er niest und prustet, schnaubt und röchelt, hustet und ringt nach Luft.
  Jetzt ist uns allen klar: Jerry kennt die Pilze nicht. Waren wohl doch keine tödlich giftigen. Und der Arzt, der den Totenschein ausgestellt hat, ist auch keine große Leuchte.

  Mr Jeremy Carmichael - eine tragische Gestalt und ein Leiden ohne Ende.

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