Die alte Erbtante mit ihren kostbaren Juwelen in verzierten Schmuckkästchen, gepuderten Perücken und prächtigen Ballkleidern aus längst vergangenen Zeiten ist wohl sprichwörtlich. Ach, was gibt es nicht alles bei ihr zu holen, wenn sie nach langem Dahinsiechen endlich gestorben und begraben ist!
Anfangs hält man sich natürlich geschickt zurück, läuft mit düsterer Miene umher, nimmt huldvoll Beileidsbezeigungen entgegen und trägt schwarze Gewänder. Ist die Zeit der Trauer dann jedoch abgelaufen und die gute alte Tante schon halb zerfallen in ihrem hölzernen Sarg, legt man jene Kleider ab und stattet sich mit festen, dunklen Koffern aus, um rechtschaffen und bescheiden zu wirken. Diese Koffer stopft man schließlich mit den wertvollen Sachen der toten Tante voll und überlässt den nutzlosen Krimskrams den armen, aber ehrlichen Verwandten, die sich damit begnügen müssen, die Wohnung der Verstorbenen auszuräumen, die Möbel abzutransportieren und den Haushalt aufzulösen. Wenn sie gründlich sind, ergattern sie dabei bestimmt noch eine silberne Haarnadel oder eine Hutschachtel aus dem Jahre 1928.
Sollten Sie, meine hochverehrten Leser, nun meinen, dass ich Ihnen heute eine Geschichte über Erbschleicher erzähle, so irren Sie sich. Wir wenden uns stattdessen der achtbaren Familie Webster zu, die zu ihrem Leidwesen bloß zusammenpacken darf, was die gierigen Verwandten übrig gelassen haben.
Percy Webster war klein, mager und bieder. Auf seinem Kopf kräuselte sich dünnes blondes Haar. Sein Gesicht war blass und ein wenig spitz. Die klaren blauen Augen blickten treu und zuverlässig. Die gerade Nase, der flache Mund und das kantige Kinn wiesen auf Charakterstärke und Gewissenhaftigkeit hin. Ein Mann wie Webster konnte nur einen Beruf ausüben: Er war ein unbedeutender Buchhalter in einem unbedeutenden Unternehmen.
Mrs Helen Webster, seine Gattin, war eine drahtige Frau mit rotbraunem Zopf, gebogener Nase und stechenden dunklen Augen. Trotz ihres unangenehmen Äußeren war sie aber herzensgut, wenn auch etwas streng - und sie hatte das Steuer fest in der Hand.
»Percy!«, rief sie energisch. »Fass mal mit an!« Soeben schob sie ein altes Nachtschränkchen durch den Flur.
»Mum, Mum! Daddy, Daddy!«, schmetterte die achtjährige Maggie im Korridor. Sie war bereits das Ebenbild ihrer Mutter. »Der Kasten mit den krummen Beinen, der ist so spaßig. Ihr werft den nicht weg, ja? Den will ich, bitte, bitte!«, forderte sie vorwitzig.
»Ja, mein Engel, den kriegst du«, versprach Daddy.
»Der alte Nachttisch ist doch vom Holzwurm befallen!«, schüttelte die Mutter abweisend den Kopf. »Der kommt mir nicht ins Haus. Der ist Sperrmüll«, lehnte sie die Bitte ihrer Tochter ab.
Traurig senkte Maggie das Haupt. Ihre Mutter duldete kein Widerwort, das wusste sie. »Der schöne Kasten mit den krummen Beinen!«, flüsterte sie nur.
»Wenn wir Tante Mollys Schlafzimmer ausgeräumt haben«, ordnete Mrs Webster an, »dann entrümpeln wir als Nächstes den Dachboden.«
»Ja, Helen«, nickte Percy.
Dank ihrer Tatkraft standen zwei Stunden später im Schlafgemach bloß noch die Wände.
»Nun ist der Speicher dran«, legte Helen fest, und schnell sprintete sie die Wendeltreppe hinauf. »Ich dachte immer, deine Tante sei reich«, meinte sie beiläufig.
»Das dachte ich auch. Sie muss wohl viel veräußert haben.«
»Nein, Percy. Da hätte sie mehr Geld auf ihrem Konto gehabt. Ich glaube eher, dein Cousin Edward ist uns zuvorgekommen. Und redlich teilen konnte der ja nie.«
»Das ist doch egal, Helen! Tante Molly ist tot und das ist schon schlimm genug.«
»Eben! Und da hat Edward, dieser Gauner, nichts Besseres zu tun, als sofort ihren ganzen Krempel zu durchstöbern und sich die teuersten Stücke unter den Nagel zu reißen!«
Während sie unablässig arbeiteten und Edward einmütig zum Erbschleicher abstempelten, entdeckten sie hinter einem klapprigen Kleiderschrank einen Gegenstand, der mit einem verstaubten grünen Tuch verhängt war.
»Nanu!«, entfuhr es Helen. »Was ist denn das?«, fragte sie neugierig, wobei sie vorsichtig den Stoff beiseiteschob. Da kam ein blitzender goldener Rahmen zum Vorschein.
»O Gott!«, rief Percy entsetzt und wurde totenbleich vor Schreck. »Lass das!«, schrie er, stürzte auf Helen zu, riss ihr das Tuch aus der Hand und zog es behutsam wieder über den Rahmen.
»Was hast du bloß? Was ist das? Warum darf ich es nicht sehen?«, überschüttete Helen ihren Mann mit Fragen.
»Das ist ein Spiegel, aber kein gewöhnlicher. Man sagt, dass ein Fluch auf ihm liegt. Man darf nicht hineinschauen. Das darfst du niemals tun - versprich es mir!«
In einer anderen Situation hätte Helen ihren Mann ausgelacht. Sie spürte jedoch, dass dies hier kein Spaß war. Die Atmosphäre auf dem düsteren Dachboden war zu unheimlich. Durch die kleinen, schrägen Fenster drang nur mattes Licht. Dunkel, fast bedrohlich muteten die alten, wurmstichigen Kommoden an, die an den Wänden standen, welche rissig und feucht waren und zu atmen schienen. Spinnweben hingen von der Decke herab und im porösen Mauerwerk hörte man Mäuse nagen und trappeln.
»Aber Percy!«, wunderte sich Helen und sie sah ihren Mann entgeistert an. »Seit wann bist du abergläubisch? Du weißt so gut wie ich, dass es keine Flüche gibt.«
»Es ist kein leeres Geschwätz, was meine Ahnen über jenes unheilvolle Familienerbstück erzählten.«
»So? Was erzählten sie denn?«, spottete Helen.
»Mit dem Spiegel hat es eine grauenvolle Bewandtnis. Dafür muss ich weit ausholen. Ich berichte dir ein andermal darüber.«
»Ich glaube, du weichst meiner Frage aus«, erwiderte Helen verärgert. »Ich möchte es jetzt wissen, Percy, sonst garantiere ich für nichts.«
»Mach bitte keine Dummheiten! Jedes Experiment kann tödlich enden!«
»Dann sag mir, was ich fürchten muss!«
»Na gut! Setz dich auf die Kiste dort und hör zu!«
Helen nahm Platz und blickte erwartungsvoll.
»Du musst wissen, die Websters haben eine wenig glorreiche Geschichte«, hob Percy an. »Sie scheuten kein Mittel, um zu Wohlstand zu kommen, und verkehrten mit zwielichtigen Personen. Dieser unselige, grässliche Wandspiegel wurde im 19. Jahrhundert von einem Meister der schwarzen Magie angefertigt, der sich mit meiner Familie überworfen hatte und sich rächen wollte. Bevor er den Spiegel anonym den Websters schickte, hatte er ihn mit einem Fluch belegt. Als das ›Geschenk‹ dann im Beisein von Gästen enthüllt wurde, starrten alle wie gebannt auf das blitzend klare Glas. Die alte Mrs Webster trat immer näher an den Spiegel heran. Sie schien fasziniert und verblüfft zugleich. Da ertönte plötzlich ein gellender Schrei und sie war weg. Einige der Anwesenden behaupteten, sie hätten ihr Abbild für kurze Zeit auf dem blinkenden Glas bemerkt und sie sei von Sekunde zu Sekunde kleiner und blasser geworden, bis man nichts mehr von ihr gesehen habe. Übereinstimmend bezeugten dies fünf Damen, Mrs Websters Butler und ein weiterer Herr. Man schenkte ihren Worten letztendlich jedoch keine Beachtung, weil sie fortan allesamt geistig umnachtet waren. Mehr Bedeutung maß man den Berichten derjenigen bei, die etwas außerhalb gestanden hatten. Diese konnten aber leider nichts Nennenswertes vermelden. Sie gaben nur an, nach Mrs Websters Verschwinden sei der Spiegel blind gewesen. Unverzüglich wurde er damals mit demselben grünen Samttuch verhüllt, das ihn noch heute bedeckt. Niemand hat es je wieder gewagt, ihn zu berühren oder gar zu betrachten.«
»Der schreckliche Vorfall ereignete sich also in diesem Haus?«, erkundigte sich Helen.
»Ja, Liebling, es war in diesem Haus.«
»Warum hat man den Spiegel nicht zertrümmert?«
»Jeder fürchtete ihn und ängstigte sich vor seiner Macht. Die scheußliche Geschichte verbreitete sich zudem wie ein Lauffeuer. Keiner erklärte sich bereit, den Spiegel zu zerstören.«
»Und wer hat ihn hierherauf gebracht?«
»Diener, vermute ich.«
»O Percy, das ist einfach abwegig! Ich kann es gar nicht glauben. Hat man denn nie mehr von der alten Mrs Webster gehört?«
»Sie tauchte nie wieder auf.«
»Aber kann es nicht auch einen anderen Grund für ihr rätselhaftes Verschwinden geben?«
»Sicher könnte es auf einem physikalischen Vorgang beruhen, den niemand zu erklären vermag«, räumte Percy ein. »Man muss jedoch bedenken, dass sie sich gewissermaßen direkt vor aller Augen verflüchtigte.«
»Ich verstehe das nicht«, raunte Helen und verschränkte die Arme, weil sie plötzlich fröstelte. »Ich habe ein ungutes Gefühl.«
»Es kann ja nichts passieren. Wir kennen schließlich die Gefahr. Wir lassen den Spiegel da, wo er ist - an der Wand«, tröstete Percy seine Frau und drückte sie sanft an sich.
»Etwas Grauenvolles wird geschehen!«, hauchte Helen beklommen. »Ich spüre das.«
»Ach was!«, wehrte Percy ihre Befürchtung ab. »Lass uns weitermachen! Je eher wir die Sache hinter uns bringen, desto besser.«
So stürzten sich die beiden in die Arbeit, stapelten verstaubte Kisten aufeinander, räumten alte Kommoden aus, rollten abgetretene Teppiche zusammen, nahmen gelblich verfärbte Gardinen ab, schleppten beschädigte Lampen, mit Rissen übersätes Porzellangeschirr, wertlose Bilder und Nippsachen, vergilbte Fotografien und unechten Schmuck durch die Wohnung, packten alles zusammen und trugen die sperrigen Möbel, soweit ihre Kräfte es zuließen, die Treppen hinunter. Die etwas größeren Schränke hackte Percy mit einer Axt klein. Dann transportierten sie die Latten und Bretter durch das Haus. - Den Spiegel hatten sie im Eifer beinahe vergessen.
Tochter Maggie indes langweilte sich sehr, denn in der leeren Wohnung gab es nichts mehr, womit sie sich beschäftigen konnte. Außerdem ärgerte sie sich noch immer darüber, dass sie das Nachtschränkchen nicht hatte behalten dürfen. Jetzt wollte sie ihren Eltern zur Strafe einen Streich spielen.
Vater und Mutter hatten ihr verboten, auf den Dachboden zu gehen. Sie befürchteten wohl, sie könne sich dort verletzen. Gerade waren die beiden auf dem Weg nach unten - eine günstige Gelegenheit für Maggie, vorsichtig die knarrenden Stufen nach oben zu schleichen. Doch als sie auf dem Speicher ankam, hatten ihre Eltern auch hier schon alles ausgeräumt. Nur da drüben an der Wand lehnte noch etwas. So ging sie schnurstracks darauf zu und lüftete ein verstaubtes olivgrünes Samttuch.
Durch das kleine Dachfenster gegenüber fiel Licht auf den Spiegel. Maggie sah sich klar und deutlich. Sie wirkte fast hübscher als sonst. Freudig breitete sie die Arme aus und drehte sich mit ihrem hellblauen Röckchen wie ein Kreisel. Auf einmal hielt sie inne. Im Spiegel schien es, als befände sie sich in der Mitte des Raumes. Dabei stand sie bloß drei Schritt von ihm entfernt! Irgendetwas stimmte hier nicht. Weshalb war sie denn so winzig?
»Komisch!«, raunte sie. »Das sieht sonderbar aus.«
Nun, da ihre Neugier geweckt, war sie fest entschlossen, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Sie lief rückwärts und richtete ihr Augenmerk währenddessen auf ihr Spiegelbild, das sich den Gesetzen der Physik zum Hohne vergrößerte. Ein seltsamer Zauber fesselte Maggie. Also ging sie drei Schritte vorwärts, wobei ihr Spiegelbild in den Hintergrund rückte. Sie setzte zwei weitere Schritte nach vorn, um das Experiment zu bestätigen. Plötzlich spürte sie einen warmen Sog. Ihr Abbild trat immer tiefer in den gespiegelten Raum, beinahe bis an die gegenüberliegende Wand. Diese Täuschung machte Maggie glauben, dass sie sich bewege, obwohl sie sich gar nicht von der Stelle rührte, und weil sie durch die Hitze des Sogs vollends die Orientierung verloren hatte, tat sie noch einen Schritt vorwärts. Da prallte sie gegen eine heiße Wand - das Spiegelglas! Es brannte wie Feuer auf ihrer Haut und drohte den Saft aus ihren Adern zu verdampfen. Der Schmerz brachte sie wieder zur Besinnung. Sie schrie wie am Spieß, woraufhin ihre Eltern herbeieilten, vor Schreck das Werkzeug fallen ließen und ebenso schrien, als sie des ekelhaften Vorgangs gewahr wurden.
Der Spiegel sog Maggie ein und ein fettiger, stinkender Dunst erfüllte den Raum. Die Eltern verloren fast den Verstand, als sie das Abbild ihrer Tochter im Spiegel bemerkten. Es schrumpfte und verblasste, bis nichts mehr davon zu sehen war. Helen und Percy blickten voller Entsetzen auf das teuflische Ding, doch das Glas war blind.
»Du verfluchte Ausgeburt der Hölle!«, wütete Percy, bückte sich nach seiner Axt, die unten auf dem Boden lag, erfasste sie und spaltete den Spiegel, schlug ihn entzwei.
Zwischen zersplittertem Glas und den zerbrochenen goldenen Figürchen, die den Rahmen geziert hatten, kamen verkohltes Fleisch, hellblaue Stofffetzen, rotbraunes Haar und blutige Knochen zum Vorschein sowie die säuberlich ausgelaugten grauen Gebeine der alten Mrs Webster und Bruchstücke ihres Totenschädels.
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