Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band I
Siebzehn Gruselgeschichten       ©  2005  Heike Hilpert, Selbstverlag
 Titel
 Vorwort
 Inhalt
 Der Mann mit dem Messer
 Das Gespensterschloss
 In Trance
 Der untrügliche Beweis
 Eine ungewöhnliche Hochzeitsnacht
 Der Whiskyvampir
 Spieglein, Spieglein an der Wand
 Die Sterne lügen nicht
 Blumen für Mr Carmichael
 Der Schlüssel
 Ein eleganter Pelz
 Maskerade
 Das Bauopfer
 Das Leben nach dem Tode
 Television City
 Der Vegetarier
 Im Schatten
 Information zur Autorin
 Literaturhinweis
 Impressum
Das Leben nach dem Tode

  Heutzutage gibt es eine ganze Reihe von plausiblen Gründen, lieber zu Hause zu bleiben als hinauszugehen. Die einen finden es angenehmer, parfümierte Zimmerluft zu atmen, anstatt naserümpfend durch die mit Abgasen verpestete Stadt zu laufen. Den anderen ist es einfach zu anstrengend, sich mal eine halbe oder gar eine ganze Stunde zu Fuß fortzubewegen. Wie viel gemütlicher sitzt man doch da im Fernsehsessel oder am Steuer eines Wagens! Manche Leute wiederum kommen kaum bis zur gegenüberliegenden Straßenseite, weil der leidige Verkehr ihnen das Überqueren der Fahrbahn schier unmöglich macht.
  Mrs Emma Houston hindert nichts von alldem daran, ihre Wohnung zu verlassen. Wie fast jeden Nachmittag sitzt sie auf ihrem kleinen roten Sofa. Auf dem Couchtisch vor ihr steht eine halb volle Tasse Tee und eine Schale mit Biskuits. Mit dem Taschentuch in ihrer Rechten trocknet sie auf umständliche Weise die dicken Tränen hinter dem Brillenglas. In der Linken hält sie das Foto ihres verstorbenen Sohnes Gary. Dieses abgegriffene Bild ist das Einzige, was ihr von ihm geblieben ist. Unendlich schmerzlich war der Verlust und noch immer tut jeder Gedanke an Gary weh. Qualvolle Erinnerungen werden wach bei der 50-Jährigen, die seit jenem Tag gebrochen ist - seit jenem Tag im Mai. Vor ihrem geistigen Auge gaukeln die Szenen des traurigen Ereignisses.

  Es war ein wunderbarer Frühlingstag mit Sonnenschein und mildem Wind, einer von diesen Tagen, die die Welt im hellsten Licht erscheinen und uns alle Sorgen vergessen lassen, den Müdesten munter, den Trübsinnigsten fröhlich machen und selbst den stursten Nihilisten für kurze Zeit davon überzeugen, dass das Dasein auf Erden nicht schlecht ist. Nach so vielen tristen Monaten ging jedem das Herz auf. Plötzlich sah alles freundlicher aus: Die Häuser waren hübscher, die Wiesen grüner, der Himmel blauer.
  Just an diesem schönen Tag war auch Mrs Emma Houston zu Unternehmungen aufgelegt. Sie wollte sich endlich einmal wieder mit ihrer alten Freundin treffen, bei einem ausgedehnten Spaziergang über dies und das plaudern, Tee trinken und Kuchen essen, kurzum, einen anregenden Nachmittag verleben. Gerade stand sie vorm Spiegel, um eingehend ihr Äußeres zu prüfen - da klingelte das Telefon. Sie nahm den Hörer ab.
  »Emma Houston. Guten Tag!«, meldete sie sich.
  »Hier ist Schwester Sandy Allman«, stellte sich die Anruferin vor. »Ihr Sohn hatte einen schweren Autounfall. Kommen Sie bitte sofort ins Hospital!«
  Mrs Houstons Hand zitterte, als sie die Anschrift der Unfallklinik notierte.
  Auf der Fahrt ins Krankenhaus peinigte sie immerzu die eine Frage: Warum ihr Sohn? Ausgerechnet Gary? Wo sie doch niemand anders hatte! Ihr Mann war ja bereits seit zehn Jahren tot, ihre Tochter wohnte jetzt in Amerika und sonst gab es keinen, der ihr nahestand. Nur ein Gedanke beherrschte sie: Er darf nicht sterben! Deshalb faltete sie ihre Hände zum Gebet. Unentwegt murmelte sie: »Er darf nicht sterben!«
  In der Klinik herrschte Tumult. Ärzte und Schwestern eilten sichtlich überlastet von Zimmer zu Zimmer. Türen flogen auf, knallten zu. Krankenpfleger schoben emsig Betten durch die restlos überfüllten Korridore. Manche Wartenden klammerten sich ängstlich und hilflos an ihre Begleiter; manche sanken händeringend in die Knie. Die einen waren stumm und wie gelähmt vor Entsetzen und konnten nicht begreifen, dass der geliebte Mensch für immer von ihnen gegangen war; die anderen reagierten hysterisch mit fürchterlichem Gelächter, irrem Kreischen und Weinkrämpfen. Eine alte Frau heulte gellend auf und raufte sich die grauen Haare.
  Wie betäubt durch das Stimmengewirr und die eigene Verzweiflung trieb es Mrs Houston einfach vorwärts.
  »Hier ist der Zutritt verboten, Madam!«, mahnte sie schließlich eine Krankenschwester.
  »Mein Sohn!«, flüsterte Mrs Houston mit tränenerstickter Stimme.
  Plötzlich rief eine Frau am Ende des Korridors schrill: »Mrs Houston? Ist eine Mrs Houston da?«
  »Hier bin ich! Hier!« Sie lief, so schnell sie die Füße trugen.
  Ein Arzt kam aus der Intensivstation und schritt schnurstracks auf die Arme zu. »Es tut mir sehr leid. Wir konnten bedauerlicherweise nichts mehr für Ihren Sohn tun.«
  Mrs Houston stand wie angewurzelt da. Der Doktor zählte ihr in kühler Fachsprache all die Verletzungen auf, denen Gary nunmehr erlegen war. Sie hörte es wie aus der Ferne, denn sie spürte einzig und allein den Schmerz.
  »Kann ich ihn noch einmal sehen?«, fragte sie schluchzend. Mit dem Taschentuch trocknete sie die Tränen, aber unaufhörlich quollen neue hervor.
  Behutsam schob der Mediziner Emma Houston in das Sterbezimmer. Sie betrat den Raum mit schlotternden Knien. Bang war ihr ums Herz, als sie den leblosen Körper ihres Sohnes im Bett liegen sah. Die weißen Laken bedeckten seine schlaffen, durch den Unfall entstellten Glieder. Nur sein Gesicht war offen, spitz und bleich, durch blutige Schrammen verunziert - eine gnadenlose Manifestation des Todes. Von unbeschreiblichem Schrecken geschüttelt, wandte sie sich ab. Keine Sekunde länger mochte sie den grauenvollen Anblick ertragen, der die Pein ins Unerträgliche steigerte.
  »Ihr Sohn war ja noch recht jung«, hob der Chirurg an und vermied es dabei, der Mutter in die Augen zu sehen. »Einige seiner Organe sind unversehrt. Sie könnten anderen Menschen das Leben retten. So wäre sein Tod nicht völlig sinnlos.«
  Mrs Houston, mit der Situation überfordert und unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, willigte widerstandslos ein. Sie hätte in diesem traurigen Moment, dem traurigsten ihres ganzen Lebens, selbst ihr eigenes Todesurteil ohne Zögern unterschrieben, denn sie wollte bloß eines - die Klinik auf dem schnellsten Wege verlassen. Kopflos stürzte sie hinaus.


* * *

  Monate waren seit jenem Tag verflossen und die Sonne lugte nur noch selten durch die sich am Himmel auftürmenden Wolken. Die Fassaden der Häuser waren feucht und bedrohlich grau. Der Herbst hatte seinen braunen Teppich ausgelegt und das Laub fiel von den Bäumen wie ein Regen verwelkter Blätter. Allerorten roch man Fäulnis und fühlte einen Hauch von Melancholie und Vergänglichkeit.
  Im letzten halben Jahr war Emma Houston merklich gealtert. Grau war nun der vorherrschende Farbton in ihrem Haar und ihr Gesicht war von neuen Runzeln zerfurcht. Die dunkelblauen Augen hatten ihren Glanz verloren. Die gewölbte Stirn, die kräftige Nase, der strenge Mund und das kantige Kinn - früher Kennzeichen ihrer starken Persönlichkeit - zeugten jetzt von Gram und Verzweiflung. Mrs Houston hatte den Tod ihres Sohnes nicht verwunden, aber mit der Zeit waren alle Tränen versiegt. Sie hatte gelernt, ohne Gary weiterzuleben.
  Heute wollte sie zum Einkaufen in die Stadt fahren. Wie gewöhnlich verließ sie das Haus, überquerte die Straße und lief bis zur Haltestelle. Hier wartete sie ein paar Minuten. Dann kam der richtige Bus und sie stieg ein. Sie schaute flüchtig zum Fahrer. Obwohl sie den Mann noch nie gesehen hatte, schien er ihr bekannt zu sein. Warum war sie bloß so beunruhigt? Sie ging bis zum ersten freien Platz; dort setzte sie sich nieder. Wie jedes Mal, wenn sie eine lange Fahrt vor sich hatte, schweiften ihre Blicke von einem zum anderen. An einem Herrn links von ihr blieben sie hängen. Er hatte ebenfalls etwas Vertrautes an sich.
  Der Bus fuhr los. Sofort schlängelte sich der Schaffner durch die Reihen und kassierte diejenigen Gäste ab, die gerade zugestiegen waren. Wie unheimlich! Auch sein Äußeres erregte Mrs Houstons Argwohn. Seine Nase glich bis ins kleinste Detail Garys Nase. Eingehend musterte sie nun die übrigen Passagiere. Ihr Nachbar zum Beispiel: Seine Ohren waren verschieden und das linke sah aus wie ein Ohr ihres Sohnes. Und der Herr vis-à-vis? Bei ihm war es das rechte Ohr! Mrs Houston zitterte am ganzen Leib. Das konnte doch nicht wahr sein!
  Ein junger Mann trat zu ihr und legte beschwichtigend seine Hand auf ihren Arm. »Ist Ihnen nicht gut? Kann ich Ihnen helfen?«
  Sie erkannte es an den Fingern - kein Zweifel! Das war Garys Hand.
  Entsetzt stand sie auf und taumelte den Gang entlang. Schaudernd betrachtete sie die Fahrgäste. Jeder einzelne erinnerte sie an ihren verlorenen Sohn. Beim einen war es das Kinn, beim anderen das Haar. Es war wirklich grauenhaft! Emma Houston wollte nur noch den Bus verlassen. Gottlob! Er hatte soeben eine Haltestelle erreicht. Als sie beim Fahrer vorüberging, wusste sie, dass sein Mund einmal Gary gehört hatte.
  Wieder auf der Straße, begann sie sich zu fassen. Das waren Trugbilder! Die Trauer um ihren Sohn zermürbte sie allmählich und nun spielten die Nerven ihr einen Streich. Den Tränen nahe, überquerte sie die Straße, um zur anderen Haltestelle zu gelangen. So schnell wie möglich wollte sie nach Hause zurückkehren. Da stieß sie mitten auf der Fahrbahn mit einem Mann zusammen, der anscheinend sehr in Eile war.
  »Verzeihen Sie bitte!«, entschuldigte er sich und blickte sie dabei mit Bedauern an.
  Mrs Houston verlor fast den Verstand. Der junge Mann hatte Garys klare graue Augen.


* * *

  An all dies erinnert sich Emma Houston seit jenem Tag stets, wenn sie das Foto ihres Sohnes betrachtet. Sie sitzt noch immer auf ihrem kleinen roten Sofa. Vor ihr auf dem Tisch steht die halb volle Tasse Tee und die Schale mit den Biskuits. Jetzt erhebt sie sich und geht zum Fenster. Sie zieht die Gardine zurück und späht hinunter auf die Straße. Oft genug hat sie versucht, wieder hinauszugehen, aber irgendjemand kommt ihr dann doch entgegen, und ebender scheint einen Körperteil von ihrem Sohn zu haben.
  Freunde und Bekannte haben natürlich mit der Zeit bemerkt, dass Emma etwas quält, doch sie will freilich keinem davon erzählen. Nun ist das Telefon ihre einzige Verbindung zur Außenwelt. Alles, was sie braucht, lässt sie sich liefern. Nein, sie will niemanden mehr sehen.
  Da klingelt es an der Tür. Mrs Houston schaut durch den Spion. Es ist Hamilton, der Privatdetektiv. Sie schließt auf.
  »Guten Tag, Madam! Ich habe gestern Nacht auftragsgemäß das Grab geöffnet. Es muss da ein Irrtum vorliegen - der Sarg ist leer! Es tut mir aufrichtig leid für Sie.«
  Emma Houston drückt dem Detektiv die andere Hälfte des geforderten Entgelts in die Hand und klappt die Tür hinter sich zu.
  Da hat sie fast ein Jahr lang Blumen auf ein leeres Grab gelegt und um Gary geweint. Ist das nicht makaber? Ist das nicht lächerlich? Er hat doch dank der modernen Transplantationschirurgie genau das erreicht, wovon Menschen seit alters träumen. Er hat ein Leben nach dem Tode - sogar mehrere Leben! Er lebt in anderen Menschen weiter, vielleicht in zehn, vielleicht in zwanzig - aber er lebt!

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