Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band I
Siebzehn Gruselgeschichten       ©  2005  Heike Hilpert, Selbstverlag
 Titel
 Vorwort
 Inhalt
 Der Mann mit dem Messer
 Das Gespensterschloss
 In Trance
 Der untrügliche Beweis
 Eine ungewöhnliche Hochzeitsnacht
 Der Whiskyvampir
 Spieglein, Spieglein an der Wand
 Die Sterne lügen nicht
 Blumen für Mr Carmichael
 Der Schlüssel
 Ein eleganter Pelz
 Maskerade
 Das Bauopfer
 Das Leben nach dem Tode
 Television City
 Der Vegetarier
 Im Schatten
 Information zur Autorin
 Literaturhinweis
 Impressum
Der Vegetarier

  Falls es Ihnen, meine hochverehrte Leserschaft, noch nicht aufgefallen ist, so gebe ich es hiermit bekannt: Wir leben im Zeitalter der Übertreibungen. Sie brauchen sich nur umzuschauen - alles ist extrem.
  Kein Haus ist jemals hoch genug, kein Reiseland ist je zu fern, kein Freizeitsport ist zu gefährlich und keine Mode zu unbequem. So hält die Wirtschaft stets neue Produkte für ihre Konsumsklaven bereit. Der Fortschritt geht ja nicht spurlos an uns vorüber. Und die paar Jahre auf Erden wollen schließlich genossen werden!
  Die nun folgende Geschichte spielt in unserer verrückten Zeit. Sie handelt von einer Exzentrikerin, die sehr zur Sprunghaftigkeit neigt, und ihrem Freund, der alles ein bisschen zu ernst nimmt.

  Douglas Todd war ein Durchschnittsbürger, der Mann auf der Straße, ein Mensch wie du und ich. Er hatte ein ebenmäßiges, ausdrucksloses Gesicht, wirkte nett und wohlerzogen, solide und gebildet. Er kleidete sich adrett, informierte sich täglich über das Weltgeschehen und ging jeden Morgen brav ins Büro. Vierzig Jahre lang verlief sein Leben ohne Höhen und Tiefen, gerade wie eine Einbahnstraße, die vom Kreißsaal direkt ins Jenseits führt. Dann lernte er Deborah kennen, eine hässliche, schrullige 30-Jährige, die sich durch grillenhaftes Gebaren, Launenhaftigkeit und wunderliche Einfälle interessant zu machen verstand und ihn mittels ihrer Überzeugungskraft für jede Idee gewinnen konnte, mochte sie auch noch so hirnverbrannt sein ...
  Nichts Böses ahnend, saß Douglas Todd eines schönen Nachmittags in seinem Lieblingscafé, genüsslich an einem Tässchen Tee nippend, eine Pfeife schmauchend, ein Extrablatt in den Händen haltend. Da betrat sie den Raum - eine Erscheinung, aus der Albträume geboren werden! Als wäre es das Natürlichste der Welt, ließ sie sich sofort in den Korbsessel neben Douglas fallen, ohne zu fragen, ob dort ein Platz frei war - eine Bewegung wie aus einem Guss, die reinste Inbesitznahme des Stuhls. Ihr aufdringlich riechendes Parfum verdarb Douglas augenblicklich das Aroma seines Tabaks und den Geschmack des Tees obendrein.
  »Heavenly XUZ«, kreischte Deborah mit wilden Gesten und so schrill, dass alle im Café es hörten. Dabei starrten die anderen Gäste sie ohnehin an wie ein Wundertier.
  »Wie bitte?«, flüsterte Douglas, verärgert über ihre Unverfrorenheit, sich ganz selbstverständlich an seinen Tisch zu setzen, so dass jeder glauben musste, sie sei seine Begleiterin.
  »Heavenly XUZ ist mein Parfum«, erklärte sie, mit den Händen fuchtelnd. »Es wird der Renner der kommenden Saison. Warten Sie es ab, mein Freund!« Ihre Zeigefinger zeichneten Spiralen in die Luft und ihre Augen rollten, als hätte sie der Blitz getroffen.
  »Ich bin eigentlich nicht an Damenparfum interessiert«, entgegnete Douglas entschuldigend.
  »Damenparfum!«, ahmte sie ihn mit verstellter tiefer Stimme nach. »Heavenly XUZ ist mehr als nur Parfum! Es ist Mode, es ist Ernährung, es ist Wohnen, es ist die neue Lebensart, verstehen Sie?«
  Ungläubig musterte Douglas sie von Kopf bis Fuß. Es sollte Monate dauern, bis er begriff, dass alles an ihr Heavenly XUZ war. Mit der Blondhaarperücke, die einen Stich ins Blaugrün hatte, fing es an und setzte sich mit ihrer geradezu grauenvollen Schminke fort, die kaum ahnen ließ, wie sie wirklich aussah. Ihr langer, dürrer Hals wurde durch eine Unzahl von miteinander verknoteten Ketten betont, die wie morsche Seile an einem knorrigen Ast baumelten und ihr eine schlampige Note und den Charme einer Gehenkten verliehen. Ihr Kleid war von erlesener Abscheulichkeit, eine Aneinanderreihung verschiedener Fetzen, zwischen denen große Lücken den Blick auf ihre Haut freigaben. Die schauderhafte Aufmachung gipfelte in grässlichen Schuhen, deren Absätze Drachen darstellten.
  Douglas fand sie abstoßend und faszinierend zugleich. Er wollte mehr von dieser sonderbaren Frau wissen. Die Freundschaft mit einer so eigenartigen Person sollte Farbe in seinen grauen Alltag bringen. Und tatsächlich eröffnete ihm Deborah eine unbekannte Welt voller Merkwürdigkeiten.
  Als Todd zum ersten Mal ihre Wohnung sah, stockte ihm der Atem. Die Farbe Grün herrschte überall: Wände, Decken, Teppiche, Möbel, selbst Geschirr und Gardinen waren grün. Wie er erfuhr, hatte sie ein paar Tage zuvor sämtliche Einrichtungsgegenstände ausgetauscht und ihren alten Hausrat in Violett weggeworfen. So machten bei ihr ständig kaum genutzte Dinge Platz für neue. Alles war für sie Spielzeug - hübsch für den Augenblick, aber langweilig auf die Dauer.
  Auf Douglas wirkte Deborahs verschwenderisches Treiben ansteckend und er übernahm es bedingungslos, soweit seine beschränkten Mittel es zuließen. In den folgenden fünf Jahren wechselte er zwölfmal die Teesorte, elfmal den Tabak, zehnmal die Haarfrisur, neunmal den Schneider, achtmal die Tageszeitung, siebenmal das Auto, sechsmal das Mobiliar, fünfmal die Konfession, viermal die Arbeitsstelle, dreimal den Wohnsitz, zweimal sogar seinen Namen. Er besuchte zwei Schönheitsfarmen, trainierte in mehreren Fitnesscentern, schluckte ungefähr tausend Pillen, eignete sich etwa zweihundert Kochrezepte an, machte sieben Diäten, erlernte elf Extremsportarten, nahm an acht verschiedenen Seminaren zur Persönlichkeitsentfaltung teil, ließ sich in ein vermeintliches früheres Leben zurückversetzen, konsultierte jede Woche den Psychoanalytiker, engagierte sich in einer Friedensbewegung, einer Vereinigung gegen Tierversuche, einem Atomgegner-Bund, einer Anti-Gentechnik-Union, einem Anti-Steuerzahler-Verein und einer Partei für Nichtwähler.


* * *

  Vor einigen Wochen nun stand Deborah mit einem großen Abfallkorb in ihrer Linken vor Douglas' Tür, klingelte mit der Unbarmherzigkeit eines Gerichtsvollziehers und stürmte darauf seine Wohnung. Wie ein Wirbelwind durch die Gassen fegt, sauste sie durch die Zimmer. Ganz so, als sei sie bei sich daheim, öffnete sie Kühlschrank und Küchenmöbel, sammelte kommentarlos Vorräte und Konserven ein und schmiss sie in ihren Mülleimer. Anscheinend war sie auf der Suche nach etwas Bestimmtem.
  »Wir sollten kein Fleisch mehr essen«, erklärte sie schließlich. Dann warf sie Douglas ein paar Videokassetten zu und flitzte hinaus.
  Auf den Videobändern waren erschütternde Berichte über Viehtransporte, Massentierhaltung und Schlachtung aufgezeichnet. Sie überzeugten Douglas im Handumdrehen davon, dass es verwerflich ist, Fleisch zu verzehren, und bewogen ihn unverzüglich zu einer radikalen Umstellung der Ernährung. Schon morgen wären die armen Rinder und Schweine vor ihm sicher.


* * *

  Den folgenden Tag verbrachte Douglas damit, sich gründlich über vegetarisches Essen zu informieren. Stundenlang durchforstete er Buchläden nach Ratgebern und Broschüren. Im Laufe des Vormittags erstand er fünfzehn Werke über den Vegetarismus. Den Nachmittag benötigte er, um sich umfassend mit der Materie vertraut zu machen. Todd erfuhr Philosophisches und Kulinarisches über diese alternative Ernährungsweise und war wild entschlossen, sofort auf jene Kost umzusteigen. Da der Inhalt seines Kühlschranks am Vortag Deborahs Fleischvernichtungsaktion zum Opfer gefallen war, musste er sich beeilen, um auf dem Markt noch etwas zu ergattern.
  Wieder zu Hause, breitete er die gesunden Zutaten für seinen Gemüseeintopf zufrieden auf dem Küchentisch aus. Zwar tropfte ihm der Zahn bei dem Gedanken an ein saftiges Steak, aber immerhin musste für sein frugales Mahl kein Geschöpf jahrelang leiden.
  Todd begann gleich mit der Zubereitung der Speisen, indem er anhob, den Blumenkohl zu zerstückeln. Da erregte ein seltsames Geräusch seine Aufmerksamkeit. Er legte das Gemüse beiseite - der eigenartige Ton war weg. Douglas dachte sich nichts weiter dabei und fing von neuem an, den Blumenkohl zu bearbeiten. Doch als er das zweite Blatt entfernte, vernahm er wieder jenes sonderbare Summen. Er brach das erste Röschen aus dem Kopf - nun wurde aus dem Summen ein Heulen! Vor Schreck ließ er den Kohl fallen, und wie Irrlichter erlöschen, so war auch das Geräusch urplötzlich verstummt. Todd erschien dies unheimlich, denn er konnte weder den Ursprung des akustischen Phänomens noch einen Zusammenhang zwischen ihm und dem Blumenkohl finden. Eingeschüchtert durch die kummervollen Laute warf er das schöne Gemüse in den Mülleimer. Er hatte ja zum Glück genügend andere Zutaten für ein leckeres Essen.
  Als Nächstes waren die Karotten an der Reihe. Kaum aber berührte er die Mohrrüben, jaulte es erneut. Immer eindringlicher wurde das Jammern. Douglas hätte schwören können, dass das Gemüse dieses Gewimmer erzeugte! Hierbei bangte er um seinen Verstand. In seiner Verzweiflung schmiss er den ganzen Einkauf auf den harten Steinfußboden.
  »Was habe ich euch Bohnen und Zuckererbsen, euch Spargelstangen und Kräutern denn getan?«, schrie er und hielt sich die Ohren zu.
  »Du darfst uns nicht essen«, piepste einstimmig die Gemüseschar. (Zumindest glaubte Todd diese Worte zu hören.) »Wir sind Geschöpfe der Natur - genau wie du. Wir leben - genau wie du. Wir mussten viele Qualen erdulden«, klagten die Elenden. »Wir wurden dicht gesät und gepflanzt. Kaum Platz zum Atmen ließ man uns. Mit Giften wurden wir besprüht, und wo der todbringende Strahl uns nicht erreichte, schlug bösartiges Getier seine Kiefer in unsere Eingeweide und nagte an uns. Du hast kein Recht, uns zu verspeisen. Wir wollen leben - genau wie du.«
  Reglos lag das Gemüse zu seinen Füßen. Er hätte es bloß zerschneiden müssen und der Spuk wäre vorbei gewesen. Aber der mitleidige Douglas brachte es nicht übers Herz, Hand an die empfindsamen Gesellen anzulegen. Deshalb räumte er sie fein säuberlich zurück in die Einkaufstüte und stellte diese vor die Haustür. An jenem Abend blieb sein Magen leer.
  Todd geriet ins Grübeln. Durfte er die offenbar doch beseelten Wesen töten? Je länger er darüber nachdachte, desto mehr kam er zu dem Schluss, dass er sich im Unrecht befand. Da alle Leute ohne Skrupel Pflanzen in den Kochtopf warfen, war anscheinend nur er allein sensibel genug, das Wehklagen der Gemarterten zu verstehen.
  Als die Einkaufstüte am Morgen verschwunden war, glaubte Douglas in der Tat, das Gemüse habe sich verselbständigt. Stattdessen hatte sich in der Nacht ein Bettler der Waren bemächtigt und sie gemeinsam mit seinen Kumpanen gleich roh verschlungen.


* * *

  Acht Wochen später ...

  Deborah, die soeben von einem Meditationsseminar zurückgekehrt ist, läutet bei Douglas Todd, um ihm von ihren neuen Erfahrungen zu berichten. Sie klingelt zehnmal kurz und energisch. Douglas aber öffnet nicht. Dann heftet sie einen Zettel an die Tür. Darauf steht geschrieben:


Konnte dich nicht erreichen. Habe dir viel zu erzählen.
Bin zurzeit auf der Suche nach verschollenen Ufo-Insassen.
Melde mich wieder, wenn ich die Außerirdischen gefunden habe.

Gruß! Deborah

PS: Esse übrigens wieder Fleisch. Ob wir uns rein pflanzlich
     ernähren oder nicht, ist letztendlich egal. Parasiten sind
     wir sowieso.


  Froh gelaunt tänzelt Deborah die Treppen hinunter. Sie weiß ja nicht, dass Douglas Todd unterdessen mangels geeigneter, sprich unbeseelter Nahrungsmittel in geistiger Umnachtung verhungert ist. Zwischen verwelkten Kräutern und unangetastetem, verdorbenem Gemüse verfault seine Leiche seither stetig. Die Nachbarn meinen, der Verwesungsgeruch rühre von den modrigen Wänden her.

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