Haben Sie schon einmal etwas Wichtiges verloren? Na sicher! Wem passiert das nicht hin und wieder! Natürlich ist es ärgerlich, wenn Sie bei einer Kontrolle Pass oder Führerschein nicht finden, beim Einkauf erst an der Kasse bemerken, dass Sie Ihr Portemonnaie vergessen haben, oder wenn Sie ohne Schirm im wahrsten Sinne des Wortes im Regen stehen. Bleibt aber ein Hochzeitsgeschenk oder gar der Ehering auf der Strecke, dann müssen Sie fortan immerzu fürchten, dass Ihre bessere Hälfte danach fragt.
Doch dies alles ist nur halb so schlimm. Das Verwechseln persönlicher Dinge mit dem Eigentum fremder Leute hingegen kann verhängnisvoll sein. Beide Betroffenen besitzen somit nämlich etwas, das ihnen kaum nützt. Gewissenhafte Bürger möchten deshalb freilich den unbeabsichtigten Tausch schnellstens rückgängig machen - wie in folgender, nicht ganz alltäglicher Geschichte.
Mr Gregory Forrester hatte sich soeben ein Bier geholt und sich auf seinem Stammplatz niedergelassen. Auf diese Weise verbrachte er meist den Feierabend. Gregory war ein Durchschnittsmensch: dunkelblond, schlank, ein nettes und regelmäßiges Gesicht ohne Eigenheiten, vielleicht ein wenig blass. Das rührte wohl daher, dass er den ganzen Tag im Archiv arbeitete, wo er nicht viel Tageslicht abbekam, dafür aber eine Menge von dem Staub, der sich im Laufe der Jahrzehnte angesammelt hatte. Gregory war verheiratet; in zehn Jahren kinderloser Ehe war die Liebe eingeschlafen und der Alltag eingekehrt. So ging er beinahe jeden Abend ins Wirtshaus und unterhielt sich mit irgendwelchen Leuten, die er nur oberflächlich kannte. Das war immerhin besser, als sich stundenlang Vorwürfe anhören zu müssen, die erst dann abebbten, wenn im Fernsehen ein Kitschfilm begann oder eine dieser Serien, die eine heile Welt vorgaukeln, welche nirgends existiert.
Forrester blickte sich um. Es schien ganz so, als fände sich heute kein Gesprächspartner. - Ach! Dort vorn vergnügte sich sein Chef mit einer fremden Frau. Forrester wandte sich ab. Da entdeckte er hinten rechts am Fenster einen Mann, der allein bei einem Glas Bier saß. Gregory hatte ihn nie zuvor gesehen. Aus Neugier trat er an seinen Tisch.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte er vorsichtshalber.
»Natürlich! Bitte nehmen Sie Platz!«, forderte der Alte ihn freundlich auf.
»Sie sind wohl nicht von hier?«, erkundigte sich Gregory.
»Ich wohne am anderen Ende der Stadt und gehe nur selten in diese Kneipe. Ich habe ohnehin kein Stammlokal, weil ich es hasse, ständig dieselben Leute zu treffen.«
Gregory lächelte schwach. Der Alte nippte langsam an seinem Glas. Forrester beäugte ihn ein wenig misstrauisch. Der Mann mochte vielleicht um die fünfzig sein, seine Kleidung war schäbig und er wirkte ziemlich eigentümlich. Er war klein und stämmig, hatte mausgraues, dünnes Haar und ein rundes, faltiges Gesicht, die Backen ädrig und rot, das Kinn breit, die Stirn niedrig, die winzigen grauen Augen mit einem ängstlichen, verschlagenen Ausdruck, versteckt unter buschigen schwarzen Brauen, die über der Nase zusammenstießen. Sein Hals war mit einer runzligen Haut überzogen, der kantige Adamsapfel trat rollend hervor. Seine Hände waren kräftig, die Finger fleischig und kurz mit ungepflegten langen, spitzen Nägeln. Das Aussehen des Alten war furchteinflößend. Forrester begann zu bereuen, dass er den seltsamen Gast angesprochen hatte.
Die beiden wechselten ein paar Worte; dann stand Gregory auf und holte seinen Mantel.
»Sie gehen schon, junger Mann?«, fragte der Fremde mit gespielter Gleichgültigkeit, doch Forrester nahm einen Unterton von aufrichtigem Bedauern wahr. »Kommen Sie, ich lade Sie noch zu einem Bier ein. Es ist so schön, sich mal nett zu unterhalten.«
Gregory tat der Alte leid, obwohl dessen Äußeres Abscheu in ihm erregte. Sicher lebte der Mann allein. Keiner, der sich um ihn kümmerte; keiner, mit dem er sich aussprechen konnte. Einsamkeit - ein Wort, das Gregory frösteln ließ, obgleich er seine Bedeutung nicht wirklich kannte.
Nun kam der Sonderling mit zwei Gläsern Bier zurück. Eines stellte er mit plumper Geziertheit an Forresters Platz, das andere an seinen eigenen. Danach zog er den Mantel aus und hängte ihn über die Lehne. Er setzte sich und wollte es sich am Fenster gemütlich machen. Als er den Stuhl zurechtrückte, fiel sein Überzieher hinunter und etwas klirrte.
Der Alte kroch unter den Tisch. »Meine Schlüssel!«, murmelte er und wimmerte erbärmlich.
Sie lagen zu Forresters Füßen. Er bückte sich. »Absonderliche Schlüssel haben Sie da«, bemerkte er.
»Warum?«, tat der andere erstaunt. »Die sind doch ganz herkömmlich.«
Forrester betrachtete sie genauer. Sie waren außerordentlich groß, reich verziert und anscheinend vergoldet. Ein verschnörkeltes Zeichen, einem Familienwappen ähnlich, ließ sie wie Märchenschlüssel aussehen. Ihre Bärte wiesen allerdings darauf hin, dass die dazugehörigen Schlösser ziemlich primitiv sein mussten.
»Sie nennen diese Schlüssel herkömmlich?«, lachte Gregory aus vollem Halse. Er zog aus der Manteltasche seine eigenen hervor und legte sie auf den Tisch. »Das nenne ich herkömmlich!«, erklärte er.
Der Alte nahm Forresters Schlüsselbund und begutachtete ihn von allen Seiten mit bewundernden Blicken.
»Darüber müssen wir uns eingehend unterhalten«, bettelte der Sonderling. »Bei einem Gläschen, versteht sich!«, quakte er mit seiner brüchigen Stimme, wobei ein wahnsinniges Lächeln, das sich durch die aufgeworfenen Lippen presste, zwei Reihen breite, faule Zähne entblößte.
Kurzum, zum Bier kam Whisky hinzu, und die beiden sprachen angeregt über Schlüssel und Türen, Möbel und Autos und alle möglichen Dinge des Lebens. Forrester erschien der Fremde immer seltsamer, so dass sein Interesse für den Kauz zu wachsen begann.
»Sie können mich ja bei Gelegenheit mal besuchen. Ich freue mich stets über Gäste. Meine Familie und ich«, fügte der Alte mit bedeutsamer Geste hinzu, »wir sind ausgesprochen gesellige Menschen, müssen Sie wissen, und wir halten zusammen wie Pech und Schwefel.«
»Das ist ...« Forrester, der bereits betrunken war, suchte nach einem passenden Wort, fand aber keines. »Das ist sehr schön für Sie«, brabbelte er schließlich.
Darauf holte der Fremde einen vergilbten Zettel hervor, der in der ausgefransten Tasche seines Überziehers wahrscheinlich schon lange ein zerknülltes Dasein fristete.
»Ich schreibe Ihnen meine Adresse auf.« Mit diesen Worten notierte er die Anschrift. Dann erhob er sich und verschwand.
Forresters Kopf war inzwischen auf die Tischplatte gesunken. Vor seinen Augen drehte sich alles. Er erwachte erst wieder, als der Wirt ihn kräftig an der Schulter rüttelte und freundlich, aber bestimmt aufforderte zu gehen. Gregory stand auf und schwankte zur Tür.
»Ihr Schlüssel!«, rief da der Wirt und reichte ihm einen goldenen Schlüsselbund. »Und hier ist noch eine Nachricht.«
Forrester stopfte alles in die Manteltaschen, der Besinnungslosigkeit nahe. Obgleich die eben erwähnte Kneipe nur fünf Minuten von seiner Wohnung entfernt war, benötigte er knapp zwei Stunden, um nach Hause zu gelangen, und es ist verwunderlich, dass er den Weg überhaupt fand.
* * *
»Sag mal, was bildest du dir eigentlich ein?!« Diese unsanften Worte weckten Gregory am folgenden Morgen. Ehefrau Ellen, die Hände in die Hüften gestemmt, stand an seinem Bett und hielt ihm eine Gardinenpredigt. »Genügt es nicht, dass du andauernd betrunken bist, Greg? Musst du jetzt auch noch deine Schlüssel verlieren? Nun können wir ein neues Türschloss einbauen lassen. Es ist nicht zu fassen!« Sie schäumte vor Wut.
»Was meinst du?«, fragte Gregory müde. Erst als sie ihm den altertümlichen Schlüsselbund unter die Nase hielt, riss er die Augen auf.
»Greg! Wie kommst du zu diesem Ding?«
Er griff sich an den brummenden Schädel. Es fiel ihm beim besten Willen nicht ein.
»Und was soll die Adresse hier?«, keifte Ellen und warf ihm das zerknitterte Blatt hin.
Langsam dämmerte es Gregory, aber er erinnerte sich nur dunkel an seinen sonderbaren Gesprächspartner vom vergangenen Abend und konnte daher kaum einen Zusammenhang herstellen. »Der Mann gestern im Wirtshaus - er war ein wenig merkwürdig. Er hat mich auf einen Whisky eingeladen. Wir haben wahrscheinlich die Schlüssel vertauscht.«
»Whisky!« Ellen war unschlüssig, ob sie lachen oder weinen sollte. »Whisky! Ha! Du weißt doch genau, dass du das Gebräu nicht verträgst!« Verständnislos schüttelte sie den Kopf und Gregory sank beschämt in die Kissen zurück.
»Was war das für ein Kerl?«, drang Ellen zornig in ihn. »Hoffentlich hast du noch deine Papiere! Wenn das bloß kein Betrüger war!«
»Woher hast du eigentlich den Schlüssel? Durchsuchst du neuerdings meine Taschen?«, fragte Gregory erbost, sein Selbstvertrauen zurückgewinnend.
»Nein, mein Lieber! Mitten in der Nacht hast du mich aus dem Bett geklingelt, nachdem du vergeblich versucht hattest, mit diesem Ding die Tür zu öffnen. Wie wärst du wohl ohne meine Hilfe hereingekommen, du Scherzbold? Durchs Schlüsselloch vielleicht? - Und der Zettel ist übrigens herausgefallen, als du deinen Mantel im Flur gedankenlos hingeworfen hast.«
»Dann werde ich den Schlüssel eben zurückbringen. Ich kriege meinen eigenen wieder, wir brauchen kein neues Türschloss und alles ist vergessen«, meinte Gregory nun verdrießlich.
»Greg«, bat Ellen versöhnlich, »geh lieber nicht dahin! Ich habe kein gutes Gefühl dabei.«
Aber Gregory kleidete sich an und ging doch.
* * *
Zwei Stunden später stand Gregory Forrester in einem verwilderten Vorgarten vor einem alten, halb verfallenen Haus mit schadhaftem Dach, brüchigem Mauerwerk und schiefen Fenstern. Er hielt Ausschau nach einer Klingel - ohne Erfolg. Dann sah er hinter einer milchigen Glasscheibe im oberen Stockwerk das Antlitz eines Kindes. Bald darauf erschien der Alte an der Tür.
»Guten Tag!«, grinste der Kauz, wobei er sein verfaultes Gebiss bloß legte. Sein Gesicht war eine Fratze.
»Ich komme wegen meines Schlüssels«, erklärte Forrester. »Sie haben ihn gestern Abend mit Ihrem eigenen verwechselt.«
»Ja, mein Freund. Ich habe es heute Morgen auch bemerkt«, kicherte der Fremde. Seine graue Zunge bahnte sich einen Weg durch die krummen Zähne. »Kommen Sie nur auf einen Sprung herein!«
Forrester folgte ihm ins Haus.
* * *
An der Wand hingen unzählige Schlüssel verschiedenster Art an eisernen Haken. Der Alte fügte Forresters Exemplar hinzu.
»Das Essen ist fertig!«, rief er durch das Gebäude. Seine Worte hallten von den dumpfen Mauern wider.
Sogleich trippelten drei Kinder und die Ehefrau herbei und nahmen an der festlich gedeckten Tafel Platz. Der Hausherr teilte die Portionen aus. Er selbst erhielt die Brust, seine Gattin die Rippchen, der ältere Sohn die Lenden, der jüngere die Schenkel und das Töchterchen Gregorys Kopf.
Und auch am nächsten Abend rief ein Kneipenwirt einem volltrunkenen Gast hinterher: »Sir! Ihre Schlüssel!«, und reichte ihm einen goldenen Schlüsselbund ...
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