Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band IV
Acht Gruselgeschichten & sieben Gedichte         ©  2008  Heike Hilpert, Selbstverlag
 Titel
 Vorwort
 Inhalt
 Totenwache
 Der blassblaue Schmetterling
 Der Ohrring
 Blondes Haar
 Tanz ohne Schritte
 Am Kamin
 Das Loch in der Wand
 Die geheime Sprache der Zeit
 Gedichte
 Information zur Autorin
 Literaturhinweis
 Impressum
Am Kamin

  Draußen rieselte der Schnee vom dunkelgrauen Himmel. Der Tag war weit fortgeschritten, es dämmerte bereits und das Städtchen sank in abendlichen Schlummer. Drinnen knisterte das Feuer im Kamin und sprühte rote Funken. Davor saßen vier alte Freunde in fröhlicher Runde und vertrieben sich die Zeit. Sie plauderten angeregt über dies und das, sprachen über Gott und die Welt und verurteilten einhellig die verfehlte Tagespolitik. Dabei rauchten sie Zigarren und tranken einen schweren, teuren Bordeaux. Dann schweiften ihre Blicke im großen, hell erleuchteten Salon umher und trafen sich schließlich im lodernden Kaminfeuer. Es war ein Herrenabend wie jeden Donnerstag. Die Themen variierten, ansonsten blieb alles gleich.
  »Kürzlich habe ich gelesen, dass Vögel intelligenter sind, als man immer glaubte«, warf Malcolm, der Forscher, ein. Allzu gern hätte der Ornithologe das Gespräch auf sein Lieblingsthema gelenkt.
  »Ich bin der festen Überzeugung, dass das dümmste Wesen auf diesem Erdball der Mensch selbst ist«, gab Barry, der Schriftsteller, eine Kostprobe seines Zynismus.
  »Wie bist du denn zu dieser Erkenntnis gelangt?«, wollte Humphrey, der Psychologe, wissen.
  »Nun, der Mensch ist wohl das einzige wirklich unvernünftige Wesen auf der Welt«, erklärte Barry und zog an der Zigarre, »denn er findet es ganz normal, Unnützes zu tun und über Sinnloses nachzudenken. Sieh uns an! Wir vier sind der beste Beweis.«
  Wesley hatte sich bisher zurückgehalten. Er kannte Barry von allen hier Anwesenden am längsten und wusste, dass es zwecklos war, sich gegen seine haarsträubenden Ansichten aufzulehnen. Barry machte sich einen Spaß daraus, abwegige Behauptungen aufzustellen, um damit anzuecken. Die vorgebrachten Einwände verdrehte und zerpflückte er dann nach Belieben. Sein ganzes Denken schien Wesley nur verquer. Deshalb zog er es vor, Wortgefechten mit dem notorischen Menschenfeind aus dem Wege zu gehen.
  Wesley war Mitte vierzig und leicht ergraut. Das erste Speckröllchen wölbte sich unter seinem Maßanzug. Noch aber hatten Schneider und Friseur keine Mühe, das Fortschreiten des Alterungsprozesses zu verbergen. Vieles verband die vier Männer in der Runde. Trotzdem war Wesleys Stellung eine besondere. Aufgrund eines ererbten Vermögens war er frei von allen Zwängen und verbrachte die Zeit vornehmlich mit Reisen und Müßiggang. Er war zufrieden, jedoch nicht glücklich. Manchmal wünschte er sich eine Lebensaufgabe, aber der Kampf mit der Trägheit war hart genug. Die Unfähigkeit, sich zu großen Taten aufzuraffen, war wohl sein gefährlichster und stärkster Gegner. Dieser Gedanke kam ihm und wollte nicht mehr weichen, solange er sein Glas in der Hand wiegte und dem roten Wein beim Fließen zusah.
  »Selbst scheinbar sinnlose Dinge können eine tiefere Bedeutung haben«, berichtigte Humphrey den Schriftsteller. »Ich denke, es gibt nichts völlig Unnützes auf der Welt. Alles hat seine Daseinsberechtigung.«
  »Wie steht es mit Krankheit, Abartigkeit oder Kriminalität?«, mischte sich Wesley schließlich doch ein.
  »Gäbe es nicht die Krankheit, so gäbe es auch keine Gesundheit. Wäre da nichts Abartiges auf Erden, was wäre dann normal?« Humphrey konnte überzeugend sein.
  »Ja«, pflichtete Malcolm dem Psychologen bei, »wenn zum Beispiel niemand sterben müsste, wüsste man nicht, wie wertvoll das Leben ist.«
  »Tod und Leben sind gar nicht verschieden«, widersprach der alles verneinende Schriftsteller. »Es sind vielmehr nur wandelbare Erscheinungsformen des Seins.«
  Heftiger Protest erschallte nun in der Runde. Jetzt ging Barry wirklich zu weit! Malcolm, der Naturforscher, und Humphrey, der Psychologe, fühlten sich auf diesem Fachgebiet bewandert und wollten sich hier keine Blöße geben. Ein Scharmützel entspann sich zwischen den Wissenschaftlern, die sich auf Lehrmeinungen stützten und hartnäckig darauf beharrten, und den beiden Zweiflern, die aus lauter Langeweile sowie aufgrund eines Überschusses an Phantasie fast alles für möglich hielten. Die Gelehrten lachten aus vollem Halse und Barry freute sich, dass es ihm gelungen war, den Freundeskreis in zwei Lager zu spalten. Noch mehr aber gefiel ihm die Tatsache, dass sich Wesley erstmals in all den Jahren auf seine Seite zu schlagen schien, denn er bestätigte seine Vermutung mit folgendem Satz: »Ich halte diese Theorie für äußerst interessant!«
  »Sie hat nur einen Haken. Es gibt keinerlei Beweise, die sie untermauern«, triumphierte Malcolm vorschnell.
  »Immerhin habe ich auf meinem letzten Ausflug nach Glastonbury die Geister der Toten munter zwischen den Ruinen der Abtei tanzen sehen.« Barrys Bemerkung rief ungläubige Blicke bei den Wissenschaftlern hervor.
  »Sag bloß, du glaubst das auch noch!«, griff Malcolm Wesley vorwurfsvoll an.
  Dieser verblüffte ihn jedoch mit der Beichte: »Ich weiß, dass es übernatürliche Dinge gibt. Ich habe sie erlebt.«
  Psychologe Humphrey zog daraufhin die Augenbrauen hoch, so wie er es gewöhnlich tat, wenn wieder mal ein interessanter Fall bei ihm gelandet war.
  »Vor rund einem Jahr«, erzählte er, »kam eine Patientin zu mir und behauptete, dass Außerirdische in ihrem Gefrierschrank hausen.«
  »Was mag wohl darin gelegen haben, das ihr unbewusst solche Angst bereitete?«, übte sich Wesley im Analysieren.
  »Für alles angeblich Übersinnliche gibt es eine ganz einfache Erklärung«, war Malcolm überzeugt.
  »Ich habe selbst eine Erfahrung dieser Art gemacht«, gestand Wesley seinen erstaunten Freunden. »Es war im letzten Sommer in Frankreich und es geschah im Schlosspark von C. - Den ganzen Vormittag hatte ich benötigt, um die Räumlichkeiten des prächtigen Schlosses zu besichtigen. Inzwischen war es Mittag geworden, die Sonne stand hoch am hellblauen Himmel und lockte mich hinaus. Also lief ich durch die wundervollen Gärten, die mich fast noch mehr beeindruckten als das Schloss. Es war wirklich die reizendste Anlage, die ich je gesehen habe. Eine breite, von Buchen gesäumte Allee führte vom Haupteingang geradeaus durch den riesigen Park. Zu beiden Seiten sprudelten Fontänen und mit Tierskulpturen verzierte Brunnen. Statuen antiker Götter und exakt beschnittene Hecken wiesen mir den Weg. Ich blieb oft stehen und erfreute mich am Anblick einer schön modellierten Venus aus Alabaster oder erquickte mich mit dem frischen Wasser, das in den lieblichen Brünnlein aus breiten Frosch- und Fischmäulern plätscherte. Bald nahm mich der Garten ganz gefangen und ich beschloss, den Rest des Tages in C. zu verbringen, denn dieser Park lohnte eine nähere Betrachtung. Irgendwann verließ ich dann die Allee und bog nach links ab. Ich setzte mich auf eine gemütliche Bank, die unter einer alten Weide stand, und holte den Reiseführer hervor, der mir schon bei der Besichtigung des Gebäudes gute Dienste geleistet hatte. Die Beschreibung der einzelnen Plastiken und der architektonischen Details sowie die botanischen Besonderheiten der Anlage interessierten mich jedoch wenig. Stattdessen verweilte ich bei der Biographie eines ehemaligen Schlossherrn, um nicht zu sagen, sie fesselte mich. Er war ein Comte und hieß Robert Soundso. Sein voller Name ist mir leider entfallen. Zeit seines Lebens sammelte er Schmetterlinge und schmiedete Verse für seine Mätressen. Er endete als Wahnsinniger, eingesperrt in einem Turmzimmer seines eigenen Schlosses.«
  »Was führte dazu, dass er den Verstand verlor?«, unterbrach Humphrey die Erzählung mit berechtigtem Interesse. Der Psychologe nahm natürlich stets regen Anteil an den seelischen Leiden seiner Mitmenschen, egal ob sie noch lebten oder bereits Jahrhunderte tot waren.
  »Darauf wollte ich gerade kommen«, fuhr Wesley in seinem Bericht fort. »Um den Ausbruch dieser Krankheit rankt sich eine Legende, die reichlich seltsam ist und die man im Reiseführer nachlesen kann, was ich mindestens drei Mal tat, weil sie mir gar zu phantastisch schien.«
  »Was ist ihm denn zugestoßen?«, fragte jetzt auch Barry ungeduldig.
  »Er brach in einem Pavillon draußen im Park bewusstlos zusammen und erholte sich davon nie wieder. Seinen Ärzten gegenüber sprach er von Spiegeln, die die Wände des Häuschens verkleideten, doch das hatte von Anbeginn nur aus Mauerwerk bestanden, welches mit hohen, schmalen Fenstern versehen war. Obgleich jene Spiegel nicht wirklich vorhanden waren, behauptete der Graf, dass sie die Welt verzerrten, verbögen und vervielfältigten. Der arme Robert glaubte tatsächlich fortan, er habe unzählige Doppelgänger, die auf seinem Anwesen umherirrten und bloß darauf warteten, seine Stelle einzunehmen. Am absurdesten ist aber wohl, dass er davon überzeugt war, dass die Statuen im Park sich bewegten, die Fontänen sich in tierische und menschliche Gestalten verwandelten und die Bäume eine höhere Intelligenz besäßen und sich mithilfe ihrer Kronen in äußeren Dimensionen fortpflanzten. Kurzum, er war total verrückt und blieb es bis an sein Lebensende.«
  »Was geschah mit dem Pavillon?«, wollte Barry wissen.
  »Nun, das ist das eigentliche Geheimnis«, machte Wesley es spannend. »Ich habe ihn gesehen, obwohl ich ihn nicht hätte sehen dürfen! Stellt euch vor, während ich die Reiselektüre las, kam ein Tourist aus England vorbei und fragte mich nach dem Weg. Weil es unterdessen bereits drei Uhr nachmittags war, dachte ich, es sei auch für mich an der Zeit, weiterzugehen. Es dauerte nicht lange - mag sein, dass ich ein- oder zweimal die Richtung wechselte -, da wurde ich eines kleinen runden Gebäudes am Ende eines schmalen Seitenweges gewahr. Ich lief den Pfad entlang, schnell und immer schneller. Mein Herz klopfte vor Aufregung, denn als ich näher kam, wurde mir klar, dass dieses halb verfallene Gemäuer nichts anderes sein konnte als der einst so prächtige Pavillon. Staunend stand ich schließlich davor. Er war ein schäbiges Ding mit einem schadhaften, kegeligen Dach, verstaubten, gesprungenen Fenstern und bröckelnden, schmucklosen Mauern. Schön war er nicht mehr anzusehen, doch er zog mich in seinen Bann. Die traurige Geschichte von dem Grafen hatte einen großen Eindruck auf mich gemacht. Ich brannte vor Neugier auf jenes unheilbringende Bauwerk, das eigentlich bloß der Belustigung dienen sollte und letztendlich Roberts Schicksal besiegelt hatte. Einmal dort stehen, wo er gestanden, als ihn das Unglück ereilte; einmal nur durch diese Glasscheiben schauen, die ihm vorgegaukelt hatten, sie seien Spiegel; einmal diese Atmosphäre spüren, die ihn in den Wahnsinn getrieben ... Ihr könnt euch denken, dass ich nicht lange zögerte und in den heruntergekommenen Pavillon hineinging, obschon seine Baufälligkeit recht abschreckend war. Was glaubt ihr wohl, was ich nun sah?«, fragte Wesley triumphierend.
  »Das Innere einer Ruine, nehme ich an«, antwortete Malcolm, der Forscher, nüchtern.
  »Im Gegenteil!«, widersprach Wesley aufgewühlt. »Kaum hatte ich den Pavillon betreten, erstrahlte er in seinem alten Glanz. Ein glitzernder Lüster hing von der stuckverzierten Decke, die Wände waren weiß getüncht und mit barocken Reliefs dekoriert. In den Nischen wachten Hermesstatuen, und die großen Fenster, die vom Boden bis zum Plafond reichten, diese klaren, hellen Fenster aus blinkendem Glas waren blanke Spiegel! Vor und hinter mir, links und rechts von mir, überall um mich herum blitzten sie und zeigten mein Abbild. Es war beängstigend, den eigenen Körper so verzerrt in verschiedenen Größen und von allen Seiten gleichzeitig zu sehen. Mir wurde ganz schwindelig und ich fühlte mich bedroht. Ich wollte nur noch raus! Doch wo vorher Fenster gewesen, waren jetzt bloß Spiegel, und eine Tür konnte ich beim besten Willen nicht finden. Verzweifelt trommelte ich mit den Fäusten an die Scheiben und trat gegen die Wände, aber erst als ich eine der Statuen aus ihrer Nische gerissen und umgeworfen hatte, erblickte ich in der Mauer dahinter einen Spalt. Ich zwängte mich hindurch und stand wieder draußen im Schlosspark - vor dem verfallenen, scheinbar harmlos vor sich hin träumenden Pavillon.«
  Wesley machte eine Pause, um tief Luft zu holen und einen Schluck Wein zu trinken. Die Erzählung hatte in ihm die Erinnerung an das unheimliche Erlebnis wachgerufen. Das nahm ihn sichtlich mit.
  »Was hast du getan, Wes?«, fragte Barry bestürzt.
  »Ich lief weg, so schnell ich konnte. Raus aus dem Park und fort von C. Das Schlimmste stand mir aber noch bevor! Am selben Abend las ich in meinem Hotelzimmer im Reiseprospekt die Biographie des Grafen zu Ende. Ganz zum Schluss wurde etwas erwähnt, was mir schier die Sprache verschlug. Der Pavillon - ich konnte es kaum fassen - war kurz nach dem Anfall des Comte bis auf die Grundmauern abgetragen worden!«
  »Das ist in der Tat eine bemerkenswerte Geschichte!«, entgegnete Barry bewegt.
  »Eine schier unglaubliche Geschichte!«, zweifelte Malcolm.
  Nur Humphrey sagte nichts dazu und meinte bloß: »Es ist spät geworden. Das Kaminfeuer geht gleich aus.«
  Obwohl Gastgeber Wesley noch einen Holzscheit nachlegte, um es wieder anzufachen, machte sich zunehmend Aufbruchstimmung breit. Die Gäste leerten ihre Gläser und stellten das Rauchen ein. Sie rutschten unruhig auf den Polstern hin und her und blickten abwechselnd hinaus in das nächtliche Schneetreiben und auf die goldenen Armbanduhren. Es war Donnerstagnacht und der Herrenabend neigte sich dem Ende zu. In einer Woche würde das nächste Treffen stattfinden.
  »Wir müssen diese Diskussion bei Gelegenheit unbedingt fortsetzen«, forderte Barry entschlossen.
  »Ja, ich werde mir in den kommenden Tagen auch mal so eine Spukgeschichte ausdenken!«, scherzte Malcolm boshaft, weil er das Gefühl hatte, von Wesley hinters Licht geführt worden zu sein.
  Humphrey sah Wesley ernst und besorgt an. Als die anderen gegangen waren, nahm er seinen Mantel und zog eine Visitenkarte hervor.
  »Wenn du Hilfe brauchst, dann bin ich immer für dich da«, versprach er. Mit diesen gut gemeinten Worten trat der Psychologe hinaus in die Nacht und stapfte durch den tiefen weißen Schnee.

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