Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band IV
Acht Gruselgeschichten & sieben Gedichte         ©  2008  Heike Hilpert, Selbstverlag
 Titel
 Vorwort
 Inhalt
 Totenwache
 Der blassblaue Schmetterling
 Der Ohrring
 Blondes Haar
 Tanz ohne Schritte
 Am Kamin
 Das Loch in der Wand
 Die geheime Sprache der Zeit
 Gedichte
 Information zur Autorin
 Literaturhinweis
 Impressum
Totenwache

  Amanda Beck hatte kein langes Leben. Als sie siebzehn Jahre alt war, schlich sich Freund Hein heimtückisch heran und entriss es ihr. Nun lag sie da auf dem Totenbett, und nichts regte sich im Raum außer den schweren Gardinen, die der nächtliche Wind, der durchs Fenster drang, zu einer leichten Wellenbewegung verführte. Die Kerzen - keiner hatte sie gezählt - brannten träge und loderten mit starrer Flamme. Sie trauerten auf den Kandelabern und erfüllten den Raum mit ihrem blassgelben Schimmer, ihrer dumpfen Wärme und ihrem süßlich-rauchigen Geruch. Das Zimmer wirkte düster, obgleich es noch vor Tagen ein Ort der Freude gewesen war. Es war Amandas Reich. Hier hatte sie gelernt und gelesen, geschlafen und ferngesehen, gelacht und geweint, Freunde empfangen und bewirtet, gefeiert und geliebt. Alles, was einst bunt und fröhlich gewesen, war jetzt farblos und trist.
  Im matten Licht sahen die Möbel wie schwarze Gespenster und die Stars auf den Postern an den Wänden wie maskenhafte Fratzen aus. Wie eine Puppe lag Amanda im Bett. Ihr Antlitz war von keiner Krankheit und keiner Qual gezeichnet. Ihre zarten, gefalteten Hände ruhten auf der schneeweißen, mit Silberfäden bestickten Decke. Die langen, schlanken Arme hoben sich kaum merklich von dem reich verzierten Totenkleid ab. Die nussbraunen Locken kringelten sich in den Kissen. Ihr Gesicht - sie war schön wie ein schlafender Engel - wurde durch Schminke belebt. Die roten Lippen, die runden Wangen, die geschwungenen Wimpern, die sich ein wenig emporreckten - dies alles schien frisch und rosig und erweckte wahrlich den Eindruck, als könnte das Mädchen jeden Moment die Augen aufschlagen.
  Wirkt ein toter Körper so gesund, wenn die Seele bereits ausgetreten ist? Amandas Eltern bezweifelten das und hatten es deshalb abgelehnt, ihre Tochter im Krankenhaus zu belassen, denn insgeheim glaubten sie, alles werde sich noch zum Guten wenden. Die Vorstellung, dass Amanda in einem kalten, dunklen Saal erwachte, der zur Aufbewahrung von Leichen diente, war ihnen ein Gräuel. Welch einen Schock würde das arme Kind erleiden! Daher hatten die Becks beschlossen, das Mädchen zu Hause in seinem Zimmer aufzubahren. Sie wollten sie Tag und Nacht beobachten und für ihre Rückkehr ins Leben beten. Ihren Tod konnten sie nicht akzeptieren, bevor es nicht einen sichtbaren Beweis dafür gab. So hatten sie Amandas Zimmer hergerichtet und sich vorgenommen, von nun an rund um die Uhr die Totenwache zu halten, auf dass keine Regung ihrer Tochter unbemerkt blieb. Daran knüpften sie all ihre Hoffnungen.


* * *

  Die Dorfbewohner waren fassungslos über Amandas frühen Tod. Trotzdem fanden sie das Vorhaben der Eltern, die dieses Unglück offenbar nicht wahrhaben wollten, ziemlich makaber. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich in der Gemeinde das Gerücht, dass die Becks ihre verstorbene Tochter zu Hause aufbahrten, um sie zerfallen zu sehen. Die Leute am Ort rümpften darüber angewidert die Nase und entschieden sich einmütig dafür, jenes schaurige, altmodische Treiben keinesfalls zu unterstützen. Nur Amandas Freund, Frederick Masterson, lief bestürzt zu den Eltern und läutete an der Haustür.
  Mit verweinten Augen öffnete Mrs Beck dem verstörten Jungen, der sie schon ungestüm mit Fragen überhäufte und bedrängte, bevor er ihr sein Beileid ausdrückte. Kaum glauben mochte er, was er da hörte. Am letzten Sonntag habe Amanda plötzlich Fieber bekommen. Am Montag habe sie bereits phantasiert. Der herbeigerufene Doktor habe ratlos danebengestanden und schließlich verfügt, dass sie schleunigst ins Hospital eingeliefert werden müsse. Doch das Unwetter am Abend habe einen Krankentransport unmöglich gemacht, und am Dienstag habe der Hausarzt bloß noch den Tod feststellen können. Alles sei so schnell und überraschend vonstattengegangen, dass es schier unbegreiflich sei, und nun wolle man nach altem Brauch die Totenwache halten, um den Heimgang der geliebten Tochter überhaupt realisieren zu können.
  Mit tränenerstickter Stimme erzählte die Mutter von den Ereignissen der letzten Tage. Die Trauer verformte dabei ihren großen Mund zu einer dicken roten Linie, aus der beim Sprechen ein breites, verbogenes O entstand. Mrs Beck war eine stattliche Erscheinung und sie hatte einen festen, von Entschlossenheit zeugenden Blick. Der Gram mochte sie zwar gebeugt, aber keinesfalls gebrochen haben.
  Frederick Masterson war ein schüchterner Junge. Er war hübsch, wenn auch ein wenig blass, hatte gewelltes blondes Haar, das noch keinen Aschton angenommen hatte, und hellblaue Augen, die fast ein bisschen zu unschuldig dreinblickten, obgleich ihnen die wüsten Phantasien, die manchmal in seinem Kopf tobten, einen wilden, leicht irren Ausdruck zu verleihen begannen. Er war gerade achtzehn und ein Schlaks, weshalb er wohl etwas ungelenk wirkte, doch die Herzlichkeit seines Händedrucks und seine aufrichtige Betroffenheit bewogen Mrs Beck dazu, ihn zur Totenwache einzuladen.
  Masterson machte sich Vorwürfe, dass er am Samstag mit seinen Eltern zu Verwandten gefahren war. Als er Amanda verlassen hatte, war sie aber völlig gesund gewesen. Wie hätte er da ahnen sollen, dass der letzte Kuss ein Abschied für immer war! Gegenüber der Mutter meinte er scheu, sie seien ja erst ein paar Wochen miteinander befreundet gewesen. Nun wolle er der Familie ganz gewiss nicht zur Last fallen. Mrs Beck jedoch mahnte Frederick, dass Zurückhaltung in diesem Fall nicht angebracht sei. Wenn er Amanda noch einmal sehen wolle, komme keine zweite Gelegenheit, und wer anders sei besser dafür geeignet, sie ins Leben zurückzuholen, als er. Sie ging sogar so weit, zu sagen, dass sie sich leichter mit dem Tod ihrer Tochter abfinden könne, wenn es auch ihm nicht gelinge, sie aufzuwecken.
  Das war für Masterson nun mehr als bloß eine Einladung; es kam schon einer Aufforderung gleich, sich an der Totenwache zu beteiligen. Es war seine Pflicht, die Eltern zu trösten und von seiner Freundin Abschied zu nehmen. So trat er mit klopfendem Herzen ein und bei jedem Schritt, mit dem er den langen, dunklen Korridor durchmaß, schlug es schneller. Er seufzte vor Trauer, als er die Stufen hinaufstieg, die ihn in das Obergeschoss führten. Bald aber mischten sich Beklemmung und Schmerz, die innere Leere verdrängte das Gefühl des Verlusts und eine unartige Aufregung überkam ihn. War es Neugier?
  Ein unbekannter Instinkt trieb Frederick unwillkürlich vorwärts. Ein heftiges, widerwärtiges Verlangen zwang ihn weiterzugehen und lockte ihn in dieses Zimmer, aus dem der Kerzenschein in den stickigen Flur drang. Die Knie zitterten ihm auf dem Weg zur Tür. Sein Kehlkopf rollte auf und ab, und mit der trägen, feuchten Zunge benetzte er die Lippen. Was geschah nur mit ihm? Übermannten ihn wieder jene seltsamen Phantasien? Eine eigenartige Laune bemächtigte sich seiner, als er wie ferngesteuert die Klinke niederdrückte, obschon die Tür bloß angelehnt war. Er trat in den Raum, den düsteren Raum, wo die Tote in einem Meer von Kissen und Deckchen aufgebettet war, beleuchtet mit bleichen Kerzen, die stumme Zeugen waren und ahnungsvoll zu flackern anfingen.
  Vorsichtig, fast ängstlich tastete sich Frederick voran, stolperte dann aber dennoch über einen Gegenstand, der auf dem Boden lag, doch kaum zu sehen war. Von dem Poltern aufgeschreckt, fuhr Amandas Vater in die Höhe. Da fühlte sich Masterson bereits bei verbotenen Gedanken ertappt, obwohl er sich bisher nichts hatte zuschulden kommen lassen und hier ja nur auf der Mutter dringende Bitte hin verweilte.
  Mr Beck ging auf ihn zu und reichte ihm wortlos die Hand. Frederick stammelte seine Beileidsbezeigung, wenngleich sie ihn nun beinahe hinterlistig anmutete. Beck war groß und schlank. Das Nussbraun seiner Locken und das tiefe Blau seiner Augen traten selbst im Dämmerlicht hervor. Seine Freundlichkeit beschämte Masterson, denn schon drängte es ihn wieder, auf das Bett zu blicken, auf Amandas Profil, ihr aufgelöstes Haar, ihre schlaffen Hände. Näher wollte er ihr sein, viel näher, ganz nahe ...
  Man muss es Verschlagenheit nennen, dass er sich erbot, die Totenwache eine Weile zu übernehmen, um so den Vater fortzulocken. Doch auf Mr Beck wirkte das keineswegs unverfroren. Er war sogar dankbar dafür, denn der Anblick seiner leblosen Tochter lastete schwer auf ihm. Auch machte ihm in dieser von den brennenden Kerzen verbrauchten Luft das Atmen sehr zu schaffen und die Müdigkeit schlich drohend heran. Der Junge versicherte dem Vater, er werde seine Aufgabe ernst nehmen und ihn nicht enttäuschen. Der Alte glaubte ihm und entfernte sich. Zurück blieb ein Frederick Masterson, der wie verwandelt war und dem langsam, aber sicher ein Licht aufging.
  Wie oft hatte er gesucht, vergeblich in seinen Erinnerungen nach Hinweisen auf Gründe für jene furchterregenden Gelüste gegraben, doch nichts gefunden. Warum nur pochte sein Herz stets etwas schneller, wenn er an einer Friedhofsmauer entlanglief? Weshalb ließ er sich so gerne auf Grabsteinen nieder und versteckte sich hinter Hecken, um Beerdigungen zu beobachten oder zuzusehen, wenn Totengräber verfaulte Leichen exhumierten? Was er da tat, war mehr als bloß geschmacklose Jungenstreiche. Die Sehnsucht nach unbeschreiblichen Dingen erfüllte ihn! All die wirren, ekelerregenden, namenlosen Bilder, die ihn seit Jahren quälten, mündeten nun in ein einziges schreckliches Wort: Nekrophilie!
  Erregung durchzuckte ihn wie ein Blitz. Gierig ließ er die Augen über die Tote gleiten und verschlang ihr engelsgleiches Antlitz mit seinen Blicken. Wie hübsch schimmerte ihr braunes Haar! Wie seidig glänzten ihre Wimpern! Wie seltsam verführerisch wirkte auf ihn ihr geschlossener Mund mit den schön geschwungenen Lippen, die keiner mehr berühren würde! Er betrachtete die feinen, schlanken Hände, ihre leicht gewölbte Stirn, die erkaltete, makellos weiße Haut, den dünnen Hals. Durch ihr Totenhemd wollte er sehen und einen Tanz mit dem Mädchen vollführen. Er verbot sich selbst jene unsittlichen Gedanken, doch sie nagten unbarmherzig an seinem kränkelnden Gehirn. Er konnte nicht umhin, Amanda tot noch anziehender zu finden als lebendig. Er trauerte nicht mehr um sie, denn er begehrte sie jetzt so, wie sie war - eine reglose Hülle, stumm und vergänglich.
  Fredericks Fingerspitzen senkten sich wie ein lüsterner Schatten über Amanda. Er betastete ihre Locken, streichelte zärtlich die bleichen Wangen, denen das Rouge eine scheinbare Frische verlieh. Mit dem Zeigefinger strich er ihr über Stirn, Nase und Mund. Schließlich verlor er vollends die Kontrolle über sich und zwang dem wehrlosen Mädchen einen innigen Kuss auf.
  Wer weiß, was der schamlose Wächter noch mit der Leiche getan, wenn nicht just in diesem Moment die Mutter den Raum betreten hätte! Die Trauernde verkannte die Situation jedoch gänzlich und glaubte, Zeugin einer rührenden Abschiedsszene geworden zu sein. Masterson hingegen mochte vor Scham in den Boden versinken. Er stammelte mit zitternder Stimme unverständliche Entschuldigungsfloskeln und rannte panisch aus dem Zimmer. In der Dunkelheit des Gemachs entgingen der arglosen Mutter seine geröteten Wangen, die ein Anzeichen für seine wahren Absichten waren.
  Selbst entsetzt über diese abnorme Neigung lief der Bursche auf dem schnellsten Wege aus dem Dorf in den Wald. Es war finster geworden und die matschigen Pfade schmatzten unter seinen Füßen. Auf einer kleinen, klapprigen Holzbrücke stand er und beugte sich weit über die morsche Brüstung. Sich in den Wildbach zu stürzen war die beste Lösung, sagte er sich. Das Wasser würde ihn reinwaschen. Aber eine innere Stimme spielte den Vorfall herunter, und letztendlich gewann der widerwärtige Trieb die Oberhand über ihn.


* * *

  Masterson verließ das Dorf am nächsten Tag und ging in eine große, weit entfernte Stadt. Dort arbeitete er als Hilfskraft bei verschiedenen Bestattungsinstituten, wo er jahrelang zügellos seiner unnatürlichen Leidenschaft frönte, ohne behelligt zu werden. Nicht einmal, als er sich in eine Leiche verliebt, sie aus dem Sarg gestohlen und in seiner Gartenlaube am See untergebracht hatte, wurde die Sache bekannt; denn keiner hätte die Gefährtin wider Willen je entdeckt, wenn nicht eines Tages ein aufmerksamer Hund seinen Herrn zu dem versteckten Häuschen geführt hätte. Über den Anblick, der sich dem freundlichen Wandersmann bot, will und muss ich an dieser Stelle jedoch schweigen, denn ein billiges Boulevardblatt hat kürzlich die Exklusivrechte an der Story erworben und berichtet demnächst über die abscheulichen Einzelheiten recht ausführlich in einer reich bebilderten, zehnteiligen Serie.

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