Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band IV
Acht Gruselgeschichten & sieben Gedichte         ©  2008  Heike Hilpert, Selbstverlag
 Titel
 Vorwort
 Inhalt
 Totenwache
 Der blassblaue Schmetterling
 Der Ohrring
 Blondes Haar
 Tanz ohne Schritte
 Am Kamin
 Das Loch in der Wand
 Die geheime Sprache der Zeit
 Gedichte
 Information zur Autorin
 Literaturhinweis
 Impressum
Tanz ohne Schritte

  Larry Hastings schritt über den trapezförmigen Marktplatz der Stadt. Kalt und glatt war der weiße Marmor und jeder Tritt verhallte mit einem kurzen Echo in der kühlen Frühjahrsnacht. Der Vollmond leuchtete bleich und verzerrt durch die Schleierwolken, die den Himmel wie Gardinen verhängten. Ab und zu fand auch ein Stern eine Lücke und blinkte hindurch. Die engen Straßen waren ruhig und verlassen und versteckten sich zwischen hohen, schmalen Gebäuden, die wie graue Schatten den Platz bewachten. Einsamkeit lag über dem Ort. Kein Mensch weit und breit. Stille und Schweigen. Bloß das fahlgelbe Licht der zierlichen Laternen durchdrang die Finsternis.
  »Klipp, klapp! Klipp, klapp!«, hörte Hastings die Absätze seiner Schuhe schallen, bis die Glocke der Turmuhr ihre blecherne Stimme erhob und verkündete, dass es nun Mitternacht war.
  »Bim, bam! Bim, bam!«, tönte es einmal und zweimal und noch mal und immer wieder, bis die einzelnen Glockenschläge zu einem ohrenbetäubenden Lärm schwollen und schließlich in einen einzigen lauten Misston mündeten, der nur langsam verklang und sich wie das Wehklagen einer Trauernden über den Marktplatz legte.
  Larry ging schnurstracks auf das Rathaus zu. Er wusste, dass hinter den Mauern des dunklen Amtsgebäudes eine erlesene Gesellschaft seiner harrte. Von außen deutete nichts darauf hin, denn kein Geräusch und kein Lichtschein drang hinaus auf den Platz. Aber kaum hatte Hastings das schwere Eisentor mit beiden Händen aufgestoßen, kam ihm auch schon eine freundlich lächelnde, ältliche Dame entgegen, hakte sich ganz selbstverständlich bei ihm ein und geleitete ihn durch die mit Kandelabern erhellten Korridore hinunter in einen prächtigen Ballsaal, der in rötlich violettes Licht getaucht war. Gespenstisch schimmerten die grotesken Fresken auf den gekalkten Wänden, und von der Decke hingen riesige Lüster mit Tausenden von Rubinen und Amethysten herab.
  Ein eigenartiger Ball war es, der hier stattfand - ohne Einlass und Garderobe, ohne Speisen und Getränke, ohne Kellner, ohne Gastgeber. Der Tanz beherrschte die Szene, doch woher die Musik kam, konnte Larry nicht ergründen. Fasziniert sah er dem Treiben zu. Wie war er so plötzlich an diesen Ort gelangt? Es wollte ihm nicht mehr einfallen, wann und warum er beschlossen hatte, jenes Fest zu besuchen. Er wusste bloß, dass er nicht zufällig und keineswegs zum ersten Mal hier war, aber seine Erinnerung an die letzte Begegnung mit der tanzenden Schar war im Laufe der Jahre verblasst. Was sich damals zugetragen hatte, das hatte er inzwischen vergessen.
  »Wollen Sie nicht ein Tänzchen wagen?«, säuselte eine aufgeputzte Dame mittleren Alters und sie fasste Hastings sanft am Arm. Dies lenkte seine Aufmerksamkeit zuerst auf ihre barock anmutende Kostümierung, dann auf seine eigene, die nicht weniger lächerlich war: hochhackige Lackschuhe, gestreifte Pumphosen, Jäckchen mit Halskrause. Er musste auf die anderen wie ein Hanswurst wirken, doch schienen sie sich nicht im Mindesten an seiner Maskerade zu stören.
  »Tanzen Sie lieber mit mir, junger Herr!«, bot sich eine recht betagte Matrone in Rokoko-Robe an. Weil Hastings nicht unhöflich sein wollte, folgte er ihr.
  Ein seltsamer Tanz war es, der nun vollführt wurde. Die Leute in ihren bizarren Verkleidungen wirbelten offenbar ziellos umher. Die Menge bewegte sich wie eine Welle hin und her, auf und ab, mal nach links, mal nach rechts. Körper drehten sich, schritten langsam und dann wieder schneller, streckten und krümmten sich, hüpften und bückten sich, glitten durch den Saal und gaben dabei keinen einzigen Laut von sich, der vom Stampfen Hunderter Füße gezeugt hätte. Nur ein regelmäßiges, trotzig schallendes »Klipp, klapp!« konnte Larry ausmachen. Es rührte von den Absätzen seiner eigenen Schuhe her.
  »Sie zerstören ja die liebliche Melodie!«, erzürnte sich ein noch junger Mann mit samtenem Wams und warf Hastings strafende Blicke zu.
  »Er kann nicht tanzen! Er kann nicht tanzen!«, gackerten drei fesche Mädchen und kicherten boshaft.
  »So heben Sie doch endlich Ihre Füße, Sie Tollpatsch!«, keifte eine Alte mit schlohweißem Haar. »Wer hat Ihnen bloß das Tanzen beigebracht!«, schüttelte sie vorwurfsvoll den Kopf.
  »Die Frage ist eher: Wer hat es versäumt?«, meinte Larrys Partnerin und brach somit eine Lanze für ihren Schützling. »Er ist ja gerade erst angekommen. Er wird es noch lernen. Ich werde ihn unterrichten.«
  »Bis zum Tagesanbruch muss er es können«, forderte ein Herr mit kleinem Bäuchlein schroff, »sonst wird ihm der Zugang zu unserer Gemeinschaft verwehrt.«
  Die Kritiker entfernten sich daraufhin und wendeten sich wieder ihrem Reigen zu. Nur dann und wann, wenn Larrys Absätze zu sehr klapperten, trafen ihn zornige und spöttische Blicke.
  »Zu tanzen heißt zu schweben«, mahnte die Lehrerin ihren ungeschickten Schüler. »Schauen Sie den anderen auf die Füße! Seien Sie nicht so schwerfällig, Herrgott! Haben Sie denn Blei an den Sohlen? Sehen Sie hin, Hastings!«, ereiferte sich die Matrone und ihr faltiger Brustansatz wippte dabei auf und nieder.
  Larry dachte keine Sekunde darüber nach, woher sie seinen Namen kannte. Er blickte bloß wie gebannt nach unten auf den steinernen Boden, der rötlich violett schimmerte und den kein Fuß berührte. Allesamt schwebten sie eine Handbreit über dem Grund!
  »Sie können das lernen!«, munterte die Dame ihn auf. »Wir haben noch ein paar Stunden Zeit. Ich werde Sie im Tanz ohne Schritte unterweisen.«
  Eine sonderbare Musik war es, die hier gespielt wurde - eine Symphonie aus sanften Tönen, mal getragen und feierlich, dann feurig, ja schwärmerisch. Sie ließ eine Melodie vermissen, wechselte ständig den Takt, wirkte abgehackt und trotzdem überladen. Falls das seltsame Werk tatsächlich einen Rhythmus hatte, dann war er für Hastings nicht erkennbar. Zwar tröstete er sich damit, dass er von jeher unmusikalisch gewesen war, aber diese Symphonie bereitete ihm großes Unbehagen. Welches Instrument mochte wohl die hellen, schwingenden Töne hervorbringen? Jedenfalls keines, von dem er je gehört hatte. Und überhaupt! Nirgendwo war eine Kapelle oder gar ein Orchester zu sehen. Woher also kam die wundersame Musik?
  »Wo haben Sie Ihre Gedanken, junger Mann?!«, schalt die Alte mit der gepuderten Lockenperücke. »Ahmen Sie meine Bewegungen nach und achten Sie auf den Gesang!«
  »Was für ein Gesang?«, fragte Larry verständnislos. »Ich höre nur dieses unbekannte Instrument.«
  »Das ist die Stimme der Wände des Hauses«, erklärte sie ihm.
  »Die Mauern singen?«, schlussfolgerte er mit zweifelnder Miene und einem schwachen Lächeln auf dem Gesicht.
  »Unsere Gegenwart bringt die Steine zum Schwingen«, erläuterte sie.
  »Das muss ein Traum sein!«, schüttelte Larry den Kopf.
  »Dann träumen Sie den Tanz, mein Bester!«, forderte sie ihn auf.
  Kein weiteres Wort wurde danach gesprochen, aber Blicke gewechselt, die mehr verrieten, als Worte jemals hätten sagen können.
  Die Turmuhr schlug eins, als Hastings damit begann, die tanzende Gesellschaft zu studieren. Aus vielen Epochen schienen die Akteure zu stammen. Nicht nur ihre Kleidung, die er anfangs fälschlicherweise für Kostüme gehalten hatte, sondern auch ihre unterschiedlichen Umgangsformen deuteten darauf hin. Irgendetwas hatte sie alle hierher gebracht - genauso wie ihn. Nichtsdestotrotz verstärkte sich bei ihm der Eindruck, dass die offenbar bunt zusammengewürfelte Schar von Leuten nicht wirklich eine Einheit bildete. Mag sein, dass sie wussten, wie man den Tanz vollführt. Doch wussten sie auch, warum sie es taten? Mag sein, dass sie ein musikalisches Meisterwerk erkannten, wo er eine Kakophonie irrwitzig aneinandergereihter, arrhythmischer Missklänge vernahm. Aber war es nicht töricht, zu glauben, dass das Rathaus selbst die Töne erzeugte?
  Die Turmuhr schlug zwei, als Hastings anfing, an seinem Verstand zu zweifeln. Er befand sich noch immer in seiner Heimatstadt. Es war eine von Dutzenden Vollmondnächten. Kein Feiertag stand an, keine Festlichkeit war geplant. Kurzum, es gab keinen Anlass, warum eine so illustre Gesellschaft mit Hunderten, vielleicht Tausenden von Gästen gerade in dieser Nacht in den Kellergewölben eines Verwaltungsgebäudes einen rauschenden Ball veranstalten sollte. Außerdem fragte Larry sich in einem fort, was er eigentlich zur mitternächtlichen Stunde auf dem Marktplatz gewollt hatte und wie er plötzlich hierhergelangt war.
  Die Turmuhr schlug drei, als Hastings versuchte, das Beste aus dem bizarren Erlebnis zu machen. Er rang sich endlich dazu durch, alle seine Bedenken zu zerstreuen. Er wollte der Vernunft entsagen und sehen, ob es ihm möglich war, diesen Tanz ohne Schritte zu erlernen, der der Schwerkraft trotzte. Larry ahmte die Bewegungen seiner Tanzpartnerin und die der übrigen Anwesenden nach, doch allein vom Pirouettieren und Schaukeln bekam er die Füße nicht von der Erde. Während die anderen, grotesken Karikaturen süßer Engel gleichend, über den Boden segelten und elegante Figuren zeigten, haftete er auf dem Grund, als zögen ihn unsichtbare Gewichte nach unten. Inmitten dieser ätherisch anmutenden Wesen kam er sich tonnenschwer vor. So schnell würde er es wohl nicht schaffen, es den geübten Tänzern gleichzutun.
  Die Turmuhr schlug vier, als Hastings bewusst wurde, dass ihm nur noch wenig Zeit verblieb, denn der Großteil der Nacht war bereits vorüber. Wenn es ihm nicht gelänge, einer von ihnen zu werden, bevor der Morgen graute, dann würden sie ihn aus ihrem Kreis verbannen und er könnte niemals ihr Geheimnis lüften. Sicher, er war schon einmal hier gewesen, und nun gaben sie ihm eine zweite Chance. Wenn er aber erneut scheiterte? Während Larry so überlegte, schnappte er bruchstückhaft Töne und Rhythmen auf, und darunter mischte sich das Klappern seiner Absätze. Im rötlich violetten Schimmer grinsten die fratzenhaften Fresken auf den Wänden, und die alte Dame unterwies ihn wortlos in dem skurrilen Reigen. Doch er schritt mehr, als er glitt, und er hüpfte, anstatt zu schweben.
  Die Turmuhr schlug fünf, als Hastings der Verzweiflung nahe war. Er begann, ein wiederkehrendes Muster in den klaren, klagenden Tönen zu erkennen, und fing an, eine Leichtigkeit in seinen Fesseln zu spüren. Seine Füße schienen sich mühelos zu bewegen, seine Beine von dem abgehackten Rhythmus getragen zu werden. Es gab einen Moment, da hatte er das Gefühl, für ein paar Sekunden abzuheben. Das war ganz unbeschreiblich! Doch es zog ihn zurück auf den harten Steinboden, der ihm jetzt kalt und glitschig vorkam und für ihn die Mühsal des Lebens symbolisierte. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet: forschende, staunende, wohlwollende, ablehnende. Die anderen schauten auf seine Füße und lauschten dem Klappern seiner Schuhe, das die Symphonie entweihte. Sie warteten darauf, dass er zu einer weiteren Levitation ansetzte, aber er enttäuschte sie. Sein Wille war eisern, doch der Tanz war zu schwierig.
  Die Turmuhr schlug sechs, als zwei Herren Hastings beiseitenahmen und freundlich aufforderten zu gehen.
  »Gewähren Sie mir noch zwei, drei Stunden!«, flehte er die beiden Männer an.
  »Ihre Zeit ist abgelaufen«, sagte der eine, der wie ein mittelalterlicher Knappe gekleidet war.
  »Sie haben ohne Frage Talent für den Tanz ohne Schritte«, räumte der andere ein. Der Frackträger rückte seine Fliege zurecht und meinte: »Unsere Gesellschaft erwartet Sie ein andermal.«
  Dann führten die Herren Hastings durch die mit Kandelabern beleuchteten Gänge nach oben, öffneten das Tor und warfen ihn hinaus. Da stand er nun im Morgengrauen auf dem mit weißen Marmorplatten belegten Marktplatz der Stadt, als die aufgehende Sonne das Kreuz auf dem Kirchturm in goldenes Licht tauchte. -
  »Er kommt gleich wieder zu sich!«, hörte Larry eine schrille Stimme wie aus der Ferne rufen.
  In diesem Moment verschwamm ihm die Stadt vor den Augen. Er fühlte sich matt, wie auf Wolken gebettet. Ihm war ganz schwindelig und sein Kopf brummte, als wäre er gerade gegen eine Mauer gelaufen. Metallisches Klirren und Stimmengewirr drangen an sein Ohr. Plötzlich traf ihn von oben ein heller Schein. Hastings sah sich orientierungslos um - er befand sich in einem Hospital! Wieder einmal hatten sie ihn zurückgeholt und seinen Wunsch, zu sterben, missachtet. Ein weiterer Versuch, aus dem Leben zu scheiden, war kläglich gescheitert, doch seine Sehnsucht nach dieser anderen Welt blieb. Und eines Tages würde er es schaffen, den Tanz ohne Schritte bis zum Morgen zu erlernen. Dann wird er für immer und ewig als Mitglied der Ballgesellschaft sorglos im Raum schweben und die Symphonie genießen.

  »Selbstmord« ist ein hartes Wort, geprägt von denen, die nicht verstehen, was es heißt, in Vollmondnächten in unterirdischen Gewölben zur jenseitigen Musik des Wahnsinns gemeinsam mit Seelenverwandten das Tanzbein zu schwingen, ohne dabei den Boden zu beflecken.

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