Am Horizont brach der erste Sonnenstrahl durch die fahlen Schleierwolken. Er blitzte durch das blank geputzte Fenster einer kleinen Dachwohnung am Stadtrand. Beharrlich kitzelte er Alice Richards an der Nase und warf einen freundlichen Schimmer auf ihr finsteres Gesicht. Ihre Stirn war zerfurcht, die Augen bewegten sich unruhig hinter den geschlossenen Lidern. Auf der spitzen, langen Nase glänzten Schweißperlen. Ihr Mund war verzerrt, die weißen Zähne bissen auf die Lippen. Das kurze braune Haar klebte an ihrem Schädel. Alice wälzte sich, gefangen in einem Albtraum, in ihrem Bett. Sie verrenkte sich, stöhnte jämmerlich, drehte den Kopf hin und her. Dann endlich fuhr sie mit einem Schrei hoch. Benommen blickte sie sich um. Was für ein entsetzlicher Traum! Nichts von alledem war real und dennoch fühlte sie sich bedroht. Eine Erinnerung hatte sich in ihrem Unbewussten eingenistet - eine Erinnerung, die nicht ihre eigene war und doch mit ihrer Person verknüpft zu sein schien. Hartnäckig peinigte sie sie Nacht für Nacht, gewann an Intensität und stieß unaufhaltsam immer weiter ins Bewusstsein vor.
Alice rieb sich die Schläfen. Ihre starken Kopfschmerzen überlagerten das Traumgeschehen zusehends. Im Schlaf standen die seltsam anmutenden Bilder lebhaft vor ihr. Sie begriff, was sie sah, war ein Teil des Ganzen. Aber kaum war sie wach, entfiel ihr der Zusammenhang. Zurück blieben bloß Bruchstücke, die sie auch tagsüber plagten, weil sie dann und wann vor ihrem geistigen Auge auftauchten und sich nur mühsam durch Konzentration auf andere Dinge wieder verscheuchen ließen. Es spukten Mauern aus groben Sandsteinquadern in ihrem Kopf, ein kleines, fensterloses Haus mit Innenhof, eine endlos lange, von riesigen Säulen flankierte Straße, ein tiefer Brunnen ohne Grund, schattige Bäume von unbekannter Art, mit wehenden Gewändern bekleidete Menschen, die sich einer fremden Sprache bedienten, Geräusche von Tieren und wüstes Gelächter, und über allem lag ein beißender Geruch von Gewürzen. Es war eine Stadt, doch nur im Traum kannte Alice ihren Namen, konnte die Einwohner verstehen und war eine von ihnen. Jetzt im Wachzustand entschwand ihr ein Detail nach dem anderen aus dem Gedächtnis. Bloß ab und zu behielt sie eine Einzelheit, die sie zusätzlich quälte, indem sie ihre Phantasie anregte und ihre Gedanken ohne Unterlass um die Traumerlebnisse kreisen ließ.
Dieses Mal hatte Alice einen weiteren Mosaikstein herüberretten können. Es handelte sich dabei um einen gewundenen, in sich selbst zurücklaufenden Schnörkel. Vielleicht war es ein Schriftzeichen oder ein religiöses Symbol. Gewiss war es bedeutsam in der anderen Welt. Und es war der Tropfen, der das Fass schließlich zum Überlaufen brachte, so dass Alice nach und nach den inneren Halt verlor und monatelang am Rand des Wahnsinns schwankte.
In der Folgezeit wiederholten sich die Träume allerdings immer seltener. Sie wurden verworrener, weniger einprägsam, weniger anschaulich. Sie rückten von Alice ab, blieben schemenhaft und unwirklich. Irgendwann verblassten die einst so lebendigen Bilder zu grauen Schatten.
* * *
15 Jahre später ...
Kürzlich hatte Alice einen Brief von einem Anwalt bekommen. In seinem Schreiben teilte er ihr mit, dass ihre Tante Grace, die überraschend gestorben war, testamentarisch verfügt hatte, dass ihre Schmuckschatulle - ein altes Familienstück - in Alice' Besitz übergehen sollte.
Seit sie diese Nachricht erhalten hatte, versuchte Alice, sich an Tante Grace zu erinnern. Nur ein einziges Mal hatte sie sie gesehen. Es war bei einem Besuch kurz vor ihrem zwölften Geburtstag gewesen. Grace Richards hatte sie seinerzeit wenig beeindruckt. Sie war weder schön noch hässlich, weder alt noch jung und in keiner Weise außergewöhnlich gewesen. Sie war wie alle Tanten, die man bloß flüchtig kennt. Doch diese Schmuckkassette hatte Alice sofort in ihren Bann gezogen. Sie hatte sie aus einer Vitrine genommen und vorwitzig nach Art der Heranwachsenden einfach öffnen wollen. Dem war die Tante zuvorgekommen und sie hatte gemeint, man müsse die Schatulle immer vor Schaden bewahren, weil sie ein Teil der Familiengeschichte sei, aber niemand wisse, was sich darin befinde, und das müsse auch stets so bleiben; denn andernfalls werde eine unsichtbare Schranke zu einer fremden Dimension niedergerissen, die Zeit könne dadurch in Unordnung geraten und somit alles widersinnig und bedeutungslos werden lassen.
Alice hatte damals freilich kaum die Hälfte von dem verstanden, was Tante Grace ihr sagen wollte. Die Worte jedoch waren ihr im Gedächtnis geblieben. Wahrscheinlich hatte auch die Tante sich an die einmalige Begegnung nur aufgrund dieses Vorfalls erinnert und deshalb beschlossen, ihr die Verantwortung zu übertragen, das Erbstück zu hüten, so wie es anscheinend schon unzählige Generationen der Familie Richards getan hatten.
Klingling! Alice fuhr auf. Das musste der Postbote sein. Ungestüm öffnete sie die Tür, rannte durch den Garten zu dem Überbringer und stürmte voller Ungeduld mit dem Päckchen unterm Arm ins Haus zurück. Mit klopfendem Herzen entfernte sie die Verpackung und legte das Juwelenkästchen auf den Tisch. Sie lief drum herum und betrachtete es argwöhnisch von allen Seiten. Es war aus massivem Silber, teilweise oxidiert und nicht besonders ansehnlich. Was mochte wohl darin sein? Da fiel ihr Blick auf ein kleines Symbol, das sich auf der Vorderseite unmittelbar unter dem Verschluss befand. Das Zeichen war ein verschnörkeltes, spiralförmiges Etwas, das in sich selbst zurücklief. Es gab Alice einen Stich und bedrohte sie allein durch seine Existenz, denn es war ein unheilkündender Bote jener Traumwelt, von der sie geglaubt hatte, sie hinter sich gelassen zu haben, die sich aber nun aufs Neue in ihr Leben schlich.
War jenes eigenartige Symbol damals der Auslöser für ihre zeitweilige geistige Umnachtung gewesen? Alice war sich nicht sicher. Dieses verwirrende, paradox einfache und zugleich komplex anmutende Zeichen jagte ihr Angst ein. Niemals würde sie das Kästchen öffnen! Tante Grace sollte ihren Willen haben. Solange sie lebte, wollte sie aufpassen, dass keiner sich an dem Erbstück zu schaffen machte. Ihr einziges Problem bestand darin, einen geeigneten, das heißt vertrauenswürdigen Nachlassverwalter für den Fall ihres Ablebens zu finden. Das hatte aber zumindest Zeit bis morgen oder übermorgen. So ergriff sie behutsam die Schatulle und versteckte sie am sichersten Ort ihres Grundstücks - im Kräutergarten gleich neben dem Rosmarin, wo sie vergangenes Jahr ihren geliebten Hund begraben hatte. Nicht der cleverste Einbrecher sollte je an den Schatz gelangen!
* * *
Alice schlief schlecht in dieser Nacht und in den darauf folgenden Nächten. Tagsüber fühlte sie sich einesteils ermüdet und anderenteils gleichermaßen von unsichtbaren Kräften getrieben. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie im Schlaf keine Ruhe fand. Und die Nähe der Schmuckschatulle, die draußen im Garten tief unter der Erde ihrer Wiederkehr harrte, tat ein Übriges. Die Gegenwart dieses Dings - obwohl das lächerlich war! - erfüllte sie mit größtem Unbehagen.
Die Neugierde ist wie ein unheilbares Fieber, das mit jedem Tag steigt, der verstreicht. Alice wollte ihr widerstehen, weil Tante Grace sich auf sie verlassen hatte, aber ihre Gedanken kreisten immerzu um das seltsame Zeichen und die ungelöste Frage, was sich in der Schatulle befand. Was für eine rätselhafte Gefahr ging von ihrem Inhalt aus? Oder war alles nur ein wirrer, unsinniger Aberglaube? Nicht zu fassen, dass keiner es je gewagt hatte, das antike Schmuckkästchen zu öffnen! Es konnte ja nicht wirklich etwas darin sein, das die Welt zu erschüttern vermochte. Doch Tante Grace war davon überzeugt gewesen und all die unzähligen Generationen vor ihr ebenso.
Alice' Körper gehorchte noch dem Verstand und wehrte sich heftig gegen den inneren Drang. Ihr Geist hingegen umschwirrte Stunde um Stunde das dunkle Fleckchen Erde neben dem Rosmarin und malte sich in Tausenden von Varianten aus, wie der vergrabene Schatz wieder gehoben würde. Rastlos und schlaflos kämpfte sie mit sich selbst. Sie empfand keine Freude mehr, vernachlässigte ihre Interessen. Hätte irgendwer Kontakt mit ihr gepflegt, dann hätte er sich ernstlich Sorgen machen müssen. Doch Alice führte ein zurückgezogenes Leben. So nahm keiner wahr, welch schwere Bürde sie zu tragen hatte und wie nahe sie einem Zusammenbruch war.
* * *
Eines Tages in einer lauen Sommernacht erwachte Alice auf einer Wiese. Unter welchen Umständen sie dorthin gelangt war, konnte sie sich nicht erklären. Es gab zwar Anzeichen dafür, dass sie in letzter Zeit schlafwandelte - an so manchem Morgen war sie in Scherben von umgeworfenen Gläsern oder Vasen getreten, die Möbel waren mitunter verrückt worden und einmal hatte eine angebissene Tafel Schokolade auf dem Küchentisch gelegen -, nun aber erreichte ihr Somnambulismus wohl einen neuen Höhepunkt, denn nie zuvor hatte sie in dieser Phase ihr Grundstück verlassen. Bisher hatte jeder nächtliche Ausflug noch im Kräuterbeet ein jähes Ende gefunden.
Alice erhob sich und blickte sich um. Sie stand mutterseelenallein auf einem Wiesenhügel. Rundum sah sie nur weitere sanfte Hügel, vom matten Mondschein schwach und gespenstisch beleuchtet. Wo war ihr Haus? Die kleine Stadt, in der sie wohnte? Die Straßen und Brücken? Die Lichter der Laternen? Wie weit war sie im Schlaf gewandert?! Ringsum lag Dunkelheit und Stille wie ein schwerer Schleier über der Landschaft. Alice begann zu frösteln. Eine unbestimmte Angst beschlich sie, denn in ihrem tiefsten Inneren wusste sie, dass man zu Fuß in Tagen nicht der modernen Infrastruktur entfliehen konnte. Und hierher schien sich noch nie jemand verirrt zu haben!
Verzweifelt kauerte sie sich hin. Was sollte sie jetzt nur tun? Abwarten, bis der Morgen graute? Weitergehen? Oder einfach versuchen aufzuwachen? Das konnte ja eigentlich bloß ein Albtraum sein - davon war sie überzeugt. Leider änderte das jedoch gar nichts an der Tatsache, dass die Gegend zwar unverkennbar heimatlich, aber unberührt und menschenleer war. So mochte es vielleicht vor ein paar Tausend Jahren ausgesehen haben. Alle Spuren einer hoch entwickelten Gesellschaft waren völlig ausgelöscht. Nicht einmal der hellblaue Pyjama, den Alice trug, wollte sich in etwas Vernünftiges verwandeln, und obgleich sie der festen Ansicht war, dass sie schlief, fühlte sie sich doch so wach wie selten in den letzten Wochen.
Bald erhellte sich der Himmel, der Mond verblasste und rollte gen Westen, und die Vögel pfiffen keck von den Zweigen, um den neuen Tag zu begrüßen. Als die Sonne aufging und ihre rötlich goldenen Strahlen über die Hügel sandte, wurde Alice klar, dass sie längst nicht mehr träumte. Sie war der Heimat nahe und trotzdem unendlich fern. Nicht Meilen trennten sie von zu Hause, sondern Äonen.
»Was habe ich bloß getan?«, schoss es ihr durch den Kopf. »Habe ich vielleicht im Schlaf die Schatulle ausgegraben? Und sie am Ende gar geöffnet?« Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Wenn es wirklich so war, warum wusste sie dann noch immer nicht, was sich in dem Schmuckkästchen befand?
Angsterfüllt lief Alice unstet hin und her. Da erschien ihr auf einem Hügel in der Ferne - fast sah es aus wie eine Fata Morgana - eine Stadt aus Sandstein. Beflügelt von dieser Vision schlug sie den Weg dorthin ein. Endlich hatte sie wieder ein lohnendes Ziel vor Augen, obschon sie es für möglich hielt, dass sie einer Luftspiegelung oder sonstigen optischen Täuschung aufgesessen war.
Den ganzen Tag wanderte sie, ohne zu rasten, der Stadt auf dem Hügel entgegen. Einmal entzog sich diese den Blicken, indem sie sich hinter den saftig grünen Wiesen und den großen, schattigen Bäumen versteckte. Ein andermal wirkte sie im grellen Sonnenlicht wie ein schroffer Felsen. Doch dann trat sie wieder plastisch hervor und hob sich von der Umgebung ab wie eine gigantische antike Tempelanlage.
Es dämmerte bereits, als Alice das letzte Berglein hinanstieg, welches nun endlich in die Stadt hinaufführte. Als sie aber oben angekommen war, stand sie vor einer hohen, unüberwindbaren Mauer aus groben Quadersteinen, an der sie schließlich entlanglief, in der Hoffnung, irgendwann auf ein Eingangstor zu stoßen. Als sie dieses letztlich gefunden und unbehelligt passiert hatte, war ihre Enttäuschung grenzenlos, denn dort, wo früher Häuser gewesen sein mochten, lagen nur mehr Trümmer verstreut. Von den größeren Gebäuden waren bloß ein paar Säulen und Fundamente übrig, und der Rest der einstmals sicher riesigen Stadt war mit verwitterten Steinen übersät.
Traurig und missmutig schlenderte Alice durch die Gassen, die die roten Strahlen der Abendsonne durchfluteten. Fast gelangweilt blickte sie sich um, denn sie verstand nicht, was sie da sah. Sie spürte jedoch den Zwang, in eine bestimmte Richtung zu gehen. So ließ sie sich treiben. Bald fand sie sich vor den Toren der Stadt wieder, wo auf freiem Feld ein verfallener Friedhof lag mit alten Gräbern und Sarkophagen, die als Denkmale der Vergangenheit der Gegenwart trotzten. Alice trat näher.
Ein beklemmendes Gefühl bemächtigte sich ihrer. Unerklärlich und wider alle Vernunft, denn wer hier ruhte, der tat es nicht nur für immer, sondern auch bereits seit langem. Ihre Anspannung wuchs dennoch mit jeder Grabstätte, an der sie vorüberging - sei es bloß ein einfaches Exemplar mit steinerner Deckplatte oder eines der besser ausgestatteten mit einem wuchtigen Sarkophag -, und es wurde ihr zur Gewissheit, dass das alles kein Zufall war. Es war kein Zusammentreffen sonderbarer Begebenheiten, dass sie sich nun genau an jener Stätte befand. Nein! Es war ihre Bestimmung. Zeit ihres Lebens war sie nach etwas auf der Suche gewesen; jetzt war sie beinahe am Ziel. Die Lösung schien greifbar zu sein.
Alice hatte fast das Ende der Nekropole erreicht, als links von ihr eine hohe Wand aufragte - die wahrscheinlich einzige erhalten gebliebene Seite einer ehemals mächtigen Gruft. Ihre Blicke glitten an der unansehnlichen Mauer entlang. Der seinerzeit sicher helle und sorgfältig behauene Sandstein war dunkel und verwittert. Trotzdem konnte man deutlich sehen, dass dieses Grab das bedeutendste der ganzen Stadt gewesen war. Alice fühlte sich auf eigenartige Weise von dem verfallenen Bauwerk angezogen und beäugte es mit ahnungsvoller Neugierde. Dann lief sie rechts daran vorbei und betrat die dahinterliegende Grabstätte. Dort standen würdevoll in Reih und Glied, nach Westen ausgerichtet, zwölf prächtige, mit Ornamenten geschmückte Steinsärge, die von der glutrot blendenden Sonne in warmes Licht getaucht wurden.
Alice hielt gespannt den Atem an. Konnte jener stumme Ort, ein Tempel der Vergangenheit und des Schweigens, ihr eine Antwort liefern? Sie betrachtete die Sarkophage mit den verwirrenden, spiralförmigen Ornamenten, den gewundenen Linien und Kringeln, bis sich schließlich in ihrem Hirn eine Blockade löste. Blitzartig kam ihr die Erkenntnis: Was sie anfangs für Zierrat gehalten hatte, war eine Schrift! Sie konnte diese Zeichen lesen und verstand sogar den Sinn der Botschaften, obwohl sie weder die Schrift noch die Sprache wirklich kannte. Es waren in Stein gemeißelte Briefe von Hinterbliebenen an ihre Toten im Jenseits. Das Bedrohlichste aber war, dass sich ein Symbol auf jedem der Särge befand. Es stellte den Namen der Familie dar und Alice sah es nicht zum ersten Mal. Es war identisch mit dem Zeichen auf Tante Grace' Schmuckschatulle!
Wie angewurzelt stand sie da und war kaum fähig, sich zu rühren. Unschlüssig verharrte sie auf demselben Fleck, bis der allerletzte Strahl der sinkenden Sonne etwas aufblinken ließ. Alice ging hin und hob es auf. Es war ein einzelner Ohrring aus schwärzlichem Silber, verziert mit einem ovalen blauen Stein (wahrscheinlich ein Saphir) und einem verschnörkelten Zeichen. Es bedeutete so viel wie »Tor der Zeit« oder »Tor der Erkenntnis«. In der archaischen Sprache jenes fremden, längst vergessenen Volkes gab es für »Zeit« und »Erkenntnis« nur ein einziges Wort.
Alice umfasste das Schmuckstück. In diesem Moment befiel sie ein lähmender Taumel. Sie fühlte, wie ihr die Knie einknickten und sie im Gräberfeld zu Boden sank, während die Dämmerung den traurigen Ort einzuhüllen begann. Dann senkte sich die Nacht über den Hügel der Verblichenen und breitete sich wie ein schwarzes Tuch über die Landschaft aus.
* * *
Es war ein frischer, angenehmer Sommertag, als Alice auf einem Wiesenhügel erwachte. Der Tau auf dem Rasen hatte ihren Pyjama durchnässt und ihr war kalt. Sie stand auf und griff sich an den Kopf. Wie war sie hierherauf gekommen? Dort unten in der Ferne grüßte ihr kleines Haus und die alte Buche neigte bedächtig die Äste. Sie musste ja mindestens eine Stunde oder gar zwei mitten in der Nacht geschlafwandelt sein, um so weit zu gelangen! Während sie sich noch wunderte, pikte etwas in ihrer Hand. Sie öffnete ihre Rechte und sah zu ihrem Erstaunen den Ohrring im Morgengrauen schimmern. Er war real und nicht nur ein Traumgebilde! Da überlief es sie eiskalt. Gab es diese verfallene Stadt wirklich, jene Kultur, die vor Äonen versunken war? Und schlimmer noch: Gab es tatsächlich etwas, was die Zeit durcheinanderbringen konnte?
Mulmig war Alice zumute, als sie den Heimweg antrat, und sie war so in Gedanken vertieft, dass sie einen Nachbarn, der ihr begegnete, gar nicht wahrnahm und glücklicherweise auch nicht bemerkte, mit welch scheelem Blick er ihren ungewöhnlichen Aufzug quittierte. Kaum war sie zu Hause angekommen, lief sie hinüber zum Kräutergarten, doch die aufgewühlte Erde und der achtlos hingeworfene Spaten ließen keinen Zweifel: Sie hatte offenbar im somnambulen Zustand die Schatulle ausgegraben und sie womöglich sogar geöffnet.
Kopflos rannte sie die Stufen hinauf in ihr Wohnzimmer und fand dort die Bestätigung. Die aufgebrochene Kassette lag auf dem Tisch und daneben funkelte im Sonnenlicht ein antiker silberner Ohrring mit einem ovalen Saphir!
Verzweifelt ließ Alice den zweiten, im Traum aufgelesenen Ohrring fallen. Von Grauen gepackt schoss sie im Zimmer schluchzend hin und her. Sie hatte versagt wie niemand vorher in all den Generationen der Familie Richards, die seit Äonen dafür verantwortlich war, die Zeit zu beschützen. Nun war es an ihr, ein Chaos zu verhindern! Sie dachte nach und kam endlich zu dem Schluss, dass Tante Grace' Schatulle samt Inhalt nicht in diese Welt gehörte. Die einzige Möglichkeit, ein finales Unglück abzuwenden, bestand darin, das Erbstück in jene Epoche zurückzubringen, aus der es stammte. Schon einmal war es ihr gelungen, das Tor in die Vergangenheit zu öffnen - es würde ihr wieder gelingen müssen!
So verbrachte Alice den Rest ihres Lebens damit, in Vollmondnächten auf Wiesenhügeln umherzustreifen, Tante Grace' Schmuckschatulle mit dem Paar Ohrringe unter den Arm geklemmt. Doch wie oft sie auch auf den taufeuchten Pfaden wanderte, ihren Blick weit in die Ferne richtete und am Horizont entlangschweifen ließ - sie vermochte die Ruinenstadt nicht mehr zu entdecken. Sie war verschwunden, in die Tiefen der Vergangenheit versunken. Das Tor schien verschlossen zu sein und war mit dem Erbstück allein, dem Boten des verflossenen Zeitalters, nicht wieder zu öffnen.
Als Alice Jahrzehnte später starb, begrub man sie auf dem Kirchhof. Ihre Gebeine mögen dort unter der Erde liegen - aber fand sie tatsächlich ihre Ruhe? Es heißt jedenfalls, dass seit ihrem Todestag in hellen Vollmondnächten auf den umliegenden Wiesenhügeln ein Geist umgeht, der ein Kästchen im Arm hält.
Von der Schmuckschatulle fehlte in Alice Richards' Nachlass übrigens jede Spur ... |