Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band V
Zehn Gruselgeschichten - Best of T. D. Messer           ©  2013  Heike Hilpert
    Titel
    Vorwort
    Inhaltsangabe
    Im Schatten
    Der Flaschengeist
    Mr Howard im Paradies
    Im Pappkarton
    Gespräch mit einer Tapete
    Bilderwelten
    Einsamer Wanderer im All
    Der blassblaue Schmetterling
    Das Loch in der Wand
    Die geheime Sprache der Zeit
    Information zur Autorin
    Literaturhinweis
    Impressum
Das Loch in der Wand

London, 21.01.19..

  Meine liebe Freundin Deirdre,

seit ich deinen letzten Brief erhalten habe, sind merkwürdige Dinge passiert. Doch lass mich von vorn beginnen. -
  Du weißt ja, dass ich seit einigen Wochen (seit fast drei Monaten!) unter einer nicht enden wollenden Schreibblockade leide. Du kennst das bestimmt nicht; dir fließen die Worte stets leicht aus der Feder. Jedenfalls ist dies die schlimmste Schaffenskrise meines Lebens. Von all den privaten und finanziellen Problemen, die mich plagen, habe ich dir bereits berichtet und darüber will ich heute schweigen. Es ist etwas anderes geschehen, was ich dir unbedingt mitteilen muss - etwas Seltsames, das mich sehr beängstigt. Wie soll ich bloß anfangen? Bitte versprich mir eines, bevor ich dir mein Herz ausschütte: Versprich mir, dass du mich nicht für verrückt erklärst, wenn du erfährst, was sich in meinem Haus abspielt! Brich nicht die Verbindung zu mir ab, lass mich nicht mit meiner Verzweiflung allein! Gib mir einfach einen Rat und mach mir Mut oder lass beides sein. Nur wende dich nicht von mir ab und sag mir ehrlich, was du von der ganzen Sache hältst.
  Seit vergangener Woche hat mein Zimmer sich verändert. Jetzt lach nicht los, es ist wahr! Die Wände, der Fußboden und selbst die Decke scheinen dynamisch und elastisch geworden zu sein. Wenn ich umherlaufe, habe ich immer das Gefühl, dass ich ein wenig einsinke. Die Decke hingegen wölbt sich ein bisschen nach oben. Berühre ich mit der Hand die Wand, so ist sie weich und warm statt hart und kalt, wie sie eigentlich sein sollte. Ich weiß, das alles klingt schon unglaublich. Da ist aber noch mehr. Im Grunde bedeutet mir die Beschaffenheit der Wände gar nichts. Am besten, du vergisst das gleich wieder und konzentrierst dich auf das Folgende. Ärgerlich, ich hätte dir gar nicht erst von diesen nebensächlichen Dingen erzählen sollen!
  Du weißt ja, wie es mir ergeht, wenn mir nichts einfällt. Ich sitze dann vor der Schreibmaschine, tippe irgendetwas, was ich hinterher nicht mal lese, und schmeiße schließlich Blatt für Blatt in den Papierkorb, bis er überquillt. In letzter Zeit wurde mir selbst das zu viel. Ich hockte bloß noch untätig auf meinem Drehstuhl und starrte tagelang auf die stumme Schreibmaschine und den weißen Bogen Papier. Irgendwann taten mir davon die Augen weh und ich schaute zum Fenster, aber das ungewöhnlich frostige Wetter hatte sie mit Eisblumen verziert und undurchsichtig gemacht. So schweiften meine Blicke im Arbeitszimmer umher. Ich musterte die Lampe oben an der gewölbten Decke, betrachtete den Schreibtisch, die Schränke und Kommoden - all die dunklen Möbel aus wurmstichigem Holz, die ich von Flohmärkten zusammengetragen habe, weil diese alten Sachen meine Phantasie beflügeln.
  Freilich bietet so ein Raum auf die Dauer nicht viel Abwechslung. Daher stierte ich immer wieder auf dieselbe Stelle: die Lücke zwischen den beiden großen Schränken gegenüber meinem Schreibtisch. Zu Anfang war da nur ein kleiner Fleck. Er war nicht weiter auffällig. Ich dachte, es sei ein Fehler in der Tapete oder die Mauer sei ein bisschen feucht, wie's im Winter hier ja nichts Besonderes ist. Stell dir nun mein Entsetzen vor, als der Fleck zusehends größer und schwärzer wurde! Ich tastete die Wand ab, aber dann tauchte ich meine Hand geradewegs in ein merkwürdiges, lichtloses Etwas. Es war weder warm noch kalt, weder luftig noch feucht - da war einfach nichts. Es ist ein Loch in der Wand meines Hauses und mir graut davor! Jedes Mal, wenn ich in seine Richtung blicke, wächst es weiter. Ich müsste es vermeiden hinzusehen, doch wie soll ich das denn bewerkstelligen? Unwillkürlich schaue ich hin und beobachte, wie es sich von Tag zu Tag ausdehnt.
  Wie gerne würde ich einfach weglaufen! Aber ich befürchte, dass sich auch an anderen Orten Löcher auftun werden. Es liegt ja sicher nicht an der Wand. Da musst du, liebe Deirdre, mit mir einer Meinung sein. Die Mauern waren stets unversehrt. Dieses Haus ist ein ganz gewöhnlicher Backsteinbau wie Millionen ähnliche Backsteinbauten anderswo auf der Welt. Nein, die Wand trifft keine Schuld. Sie ist in Ordnung. (Das sagt sogar mein Nachbar, dieser Carter, und er muss es wissen. Schließlich wohnt er ja auf der anderen Seite.) Ich bin überzeugt, es sind meine Augen. Ich starre Löcher in die Mauern!
  Mir bereitet das alles große Sorge. Was soll ich bloß machen? Ich bin so bedrückt von den beunruhigenden Vorgängen in meinem Haus. Kann nicht mehr schlafen und nichts mehr essen, traue mich kaum noch hinaus. Habe eine schwere Kommode aus Eichenholz vor das Loch geschoben und warte bangend ab.
  Meine liebe Deirdre, du bist meine einzige Seelenverwandte. Nur du verstehst mich - wenn es überhaupt einer tut! Schreib mir bitte recht bald, wie du darüber denkst und wie ich weiter vorgehen soll. Deiner raschen Antwort harrt fiebernd

  Dein verzweifelter Leland



Oxford, 23.01.19..

  Mein lieber Leland,

mit Bestürzung habe ich deinen letzten Brief gelesen. Wenn die Dinge, die du geschildert hast, wirklich geschehen, wenn dieses bedrohlich wachsende Loch in der Wand wahrlich real ist, bist du in Schwierigkeiten. Aber noch - und das sage ich mit aller Vorsicht - mag ich nicht daran glauben. Es scheint mir zu phantastisch, als dass ich es für bare Münze nehmen könnte. Ich halte dich nicht für verrückt, wie du befürchtet hast. Nein, keiner dreht über Nacht einfach durch. Gerade du warst schließlich trotz deiner Kreativität stets vernünftig und besaßest den Gleichmut, der mir meist fehlt. Doch ich möchte die Möglichkeit nicht ganz außer Acht lassen, dass du vielleicht einem Hirngespinst aufgesessen bist. Und jetzt will ich dir erklären, wie ich zu diesem Schluss gekommen bin.
  Dein Haus ist ziemlich finster, besonders im Winter, wenn es auch draußen kaum richtig hell wird. Kann es da nicht sein, dass die dunkle Stelle zwischen den Möbeln bloß ein Schatten ist? Dein Arbeitszimmer war immer schon so schlecht beleuchtet, dass das Licht nicht in jeden Winkel des Raumes dringt.
  Abgesehen davon denke ich, dass deine Schreibblockade bereits verdächtig lange währt. Ganz ehrlich, mein Bester, du brauchst dringend eine Pause! Du solltest aufhören, dauernd vor der Schreibmaschine zu sitzen. Geh doch mal ein bisschen durch die Stadt spazieren oder fahr für ein paar Tage weg! Wenn du dich erholt und neue Eindrücke gesammelt hast, wird sich deine Schreibblockade von selbst lösen - und das Loch in der Wand wird verschwunden sein.
  Ich habe aber noch einen anderen Vorschlag: In zwei, drei Tagen könnte ich nach London kommen und mich persönlich vom Zustand deines Hauses überzeugen. Im Augenblick muss ich leider ein paar eigene Probleme aus der Welt schaffen, die nicht minder quälend und auch keinesfalls weniger grotesk sind als deine. Ich möchte dich jetzt jedoch nicht damit belasten.
  Schreib mir einfach, ob es dir recht ist, wenn ich dir einen Besuch abstatte. Bis dahin!

  Deine Freundin Deirdre



London, 25.01.19..

  Beste Deirdre,

du ahnst nicht, wie dankbar ich dir für dein großzügiges Angebot bin. Die Aussicht, dich in Kürze bei mir zu haben, und zu wissen, dass du meine Sorgen ernst nimmst - du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet. Bitte komm her, wann immer du willst, aber möglichst schnell! Es ist noch weitaus schlimmer geworden. Überall in meinem Haus, in jedem Raum entstehen Löcher. Es ist beängstigend, gruselig. Ich tue nachts kein Auge mehr zu. Ich werde mich erst wieder besser fühlen, wenn du hier bist und mir bestätigst, dass ich mir das alles nur einbilde. Oh, ich bete darum, dass es bloß eine Sinnestäuschung ist!
  Ich flehe dich an, Deirdre! Besuche mich bald, warte nicht zu lange! Sonst haben mich entweder die Löcher geschluckt oder ein Wahnsinniger öffnet dir die Tür. Du bist meine letzte Rettung, denn du sagst mir die Wahrheit, mag sie auch bitter sein.
  Es erwartet dich sehnlichst

  Dein alter Freund Leland



Oxford, 27.01.19..

  Lieber Leland,

morgen fahre ich nach London. Gegen Mittag werde ich dich aufsuchen. Eigentlich wollte ich heute den Abendzug nehmen, doch ich muss unbedingt noch etwas zu Ende bringen.

  Deine Deirdre



Oxford, 28.01.19..

  Leland, mein lieber Freund,

es tut mir so leid, dass ich dich enttäuschen muss. Glaub mir, ich wollte zu dir kommen und dir beistehen, aber bedauerlicherweise haben die Vorgänge in meinem Haus eine dramatische Wendung genommen. Ich kann nicht mehr weg, nicht fort von hier, obwohl ich mir nichts sehnlicher wünsche. Ich kämpfe einsam in einer aussichtslosen Schlacht und kann dir nicht helfen - genauso wenig, wie du mir helfen könntest. Du musst sehen, wie du deine Probleme allein löst. Für dich besteht gewiss noch Hoffnung; für mich ist alles verloren.
  Warte auch nicht auf weitere Nachrichten von mir, denn die heutige wird die letzte sein. Schon morgen käme da bei dir bloß irgendein zusammenhangloses Gestammel an, unverständliche Wortgeflechte, Buchstabensalat oder gar nur einzelne Lettern. Wundere dich nicht, wenn ich, die einst so talentierte Autorin, der Nachwelt nichts als leere Blätter hinterlasse! Du weißt, dass ich schreiben kann, besser gesagt, dass ich es konnte. Du hast meine Geschichten gelesen und für gut befunden. Du bist mein Zeuge, Leland, mein einziger Zeuge! Als einen solchen brauche ich dich, wenn ich nicht mehr bin ... Ich muss es dir näher erklären, ich weiß. -
  Es sind die Buchstaben, Leland! Sie sind in Aufruhr und haben sich allesamt, einer hübsch nach dem anderen, gegen mich verschworen. Sie quälen und necken mich von früh bis spät.
  Das Fragezeichen war das erste Zeichen, das aus der Reihe tanzte. Unmerklich verrutschte es auf der Linie. Von Tag zu Tag fiel es mir schwerer, es ordentlich zu platzieren. Es taumelte auf der Zeile, neigte sich mal nach links, mal nach rechts. Manchmal war es gänzlich verformt, dann winzig klein oder übergroß. Es wollte mir nicht mehr gut geraten. Anfangs habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht. Ich tat es ab als eine Unachtsamkeit meinerseits, doch bald belehrten mich die Fragezeichen eines Besseren. Sie bewegten sich selbstständig hin und her. Ich traute meinen Augen kaum, als sie sich vom Papier lösten, sich vom Blatt erhoben und einfach umherspazierten!
  Es dauerte nicht lange, da folgten die anderen Satzzeichen ihrem Beispiel. Jetzt tun es ihnen schon die Vokale gleich. Sie alle haben ein Eigenleben entwickelt, das sich meiner Kontrolle entzieht. Keck stolzieren sie durch den Raum. Manche verflüchtigen sich dabei, einige hüpfen bedrohlich um mich herum und keines will sich wieder aufs Papier bannen lassen. Ich habe versucht, sie zu ergreifen, aber sie sind viel zu flink. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich auch die Konsonanten davonstehlen werden.
  Mein Freund, sag mir, bin ich wahnsinnig oder bist du es? Oder sind wir beide verrückt? Meine Niederschriften leeren sich, die Zeichen verschwinden nach und nach. Nichts wird bleiben von all dem, was ich in den vielen Jahren geschaffen habe. Mein Leben ist sinnlos. Die Opfer, die ich brachte, waren umsonst. Die Buchstaben triumphieren! Die Sätze verlieren ihre Wörter und die Wörter ihre Selbst- und Mitlaute.
  Wir sehen uns nie wieder, Leland. Ich hoffe, dass dir ein günstigeres Schicksal beschieden ist als mir.
  Ein letztes Mal umarmt dich im Geiste

  Deine Deirdre



  Eine Woche später fanden Nachbarn die Leiche von Deirdre Robbins inmitten unbeschriebener, loser Blätter. Ihr Haus beherbergte eine Sammlung gehefteter Papierbogen. Auf keinem fand sich jedoch nur ein einziger Buchstabe, geschweige denn ein Hinweis auf den Grund für ihren Freitod.
  Leland Perkins wurde im darauffolgenden Frühjahr von entfernten Verwandten als vermisst gemeldet. Von ihm fehlt bisher jede Spur. Auch seine literarischen Werke waren nirgends zu entdecken. Wo immer er hinging, er hat sie wohl mitgenommen.

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