Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band V
Zehn Gruselgeschichten - Best of T. D. Messer           ©  2013  Heike Hilpert
    Titel
    Vorwort
    Inhaltsangabe
    Im Schatten
    Der Flaschengeist
    Mr Howard im Paradies
    Im Pappkarton
    Gespräch mit einer Tapete
    Bilderwelten
    Einsamer Wanderer im All
    Der blassblaue Schmetterling
    Das Loch in der Wand
    Die geheime Sprache der Zeit
    Information zur Autorin
    Literaturhinweis
    Impressum
Im Schatten

  Mehrere Stunden saß ich wie gelähmt in meinem Sessel. Mich fröstelte merklich, obwohl das Thermometer an der Wand bereits 30 °C anzeigte. Mein Blick war seit langem auf die große Standuhr gegenüber geheftet. Obzwar der Perpendikel stetig schnurrte und die Zeiger sich in altgewohnter Manier so träge wie eine halb tote Schnecke bewegten, schien es mir, als stünde die Zeit still. Meine Uhr muss defekt sein, denn als ich zum ersten Mal heute Nacht den blassen Vollmond sah, war es fünf Minuten vor zwölf.
  Gleich darauf bin ich aufgesprungen und habe meine schweren samtenen Vorhänge zurückgezogen, um den Mond, den bleichen Gesell, gebührend zu begrüßen. Schaudernd betrachtete ich ihn, der so erhaben auf unsere kleine Welt herableuchtet, von meinem Fenster aus. (Solange ich denken kann, fühle ich mich magisch von ihm angezogen, obwohl er jahraus, jahrein neckisch auf mein Bett blinzelt und mir mit seinen kalten weißen Strahlen grausige Albträume beschert. Aber nichts hasse ich mehr als einen nackten schwarzen Himmel bei Nacht.)
  Schwacher Mondschein streifte anfangs nur die äußerste rechte Seite meines Zimmers. Nach und nach erfüllte das gespenstische Licht den ganzen Raum. Demzufolge muss inzwischen einige Zeit vergangen sein. Jedoch die Zeiger der Uhr verharren noch immer bei fünf Minuten vor zwölf, obgleich das Pendel, unentwegt tickend, treu und zuverlässig seinen mechanischen Dienst versieht. Nun lehne ich mich wieder aus dem Fenster, schaue fragend zu ihm hinauf, fast hoffend, dass er weiß, warum ich mir heute selbst so fremd bin, warum die Zeit auf meiner Uhr stillsteht, warum mich ständig friert. Jetzt, da ich meine Gedanken schweifen lasse, fällt mir auf, dass mein Körper völlig dunkel ist. Wenn auch Gevatter Mond das Zimmer unaufhörlich mit silbernen Strahlen durchflutet, befinde ich mich trotzdem in trostloser, tiefer Finsternis, vollkommen in einen Schatten getaucht. Warum gelangt das Licht geradewegs durch mich hindurch? Wieso tickt die Uhr vernehmlich, obwohl sich der Minutenzeiger nicht vom Fleck rührt? Weshalb wird es nicht mehr Mitternacht?
  Die Zeit vergeht, das erkenne ich am unaufhaltsamen Wandern des Mondes am Firmament. Mein nächtlicher Begleiter verblasst zusehends. Langsam erhellt sich der Himmel und der frische Morgen graut. Ich stelle mir indes dieselben Fragen wie zuvor.


* * *

  Einige Stunden später verlasse ich bei gleißendem Sonnenschein meine Wohnung. Ich kann bloß schätzen, dass unterdessen mehrere Stunden verflossen sind, denn ein letzter Blick auf das Zifferblatt der hölzernen Standuhr verrät nichts Neues. Mein alter Weggefährte beharrt auf fünf Minuten vor Mitternacht, obschon das goldene Gestirn nur über seine Sturheit lacht.
  Ich genieße die Helligkeit des Morgens für kurze Zeit. Bald aber beschleicht mich das gleiche beklemmende Gefühl wie vergangene Nacht. An einem so herrlichen Frühlingstag zittere ich vor Kälte, friere, als wäre ich von Eis umschlossen. Selbst das Licht der Sonne ist allein für die anderen da. Während sie sich wohlig in ihren Strahlen rekeln, umgibt mich Finsternis. Wieder bin ich im Schatten.
  Allmählich füllen sich die Straßen der Stadt. Die Menschen drängen durch die Gassen. Zu Tausenden strömen sie in die Parks. So viele Leute wohnen hier am Ort und jeder will hinaus in die freie Natur. Doch seltsam ist das Gewimmel! Zwischen bunt gekleideten, heiteren Personen, die offenbar das milde Wetter in vollen Zügen genießen, trotten andere behäbig und ziellos umher. Ihre Kleidung, ihr Haar, ihr Teint - alles wirkt farblos und grau. Noch nie in meinem Leben habe ich solche düsteren Gestalten gesehen. Warum fallen sie mir denn erst heute auf? Die fröhlichen Menschen nehmen anscheinend gar keine Notiz von ihnen. O Gott! Sie laufen direkt durch die Grauen hindurch!
  Meine defekte Uhr, diese ständige Kälte, Finsternis und Schatten, all die sonderbaren Leute! Wirre Gedanken und vage Erinnerungen schwirren mir durch den Kopf. Ich gerate in Panik. Bin ich einer von ihnen? Durchlässig und unsichtbar wie die Luft, die ich atme?
  Dort drüben an der Mauer eines alten Hauses lehnt ein Greis. Sicher ist ihm schlecht. Ich gehe jetzt einfach hin, tippe ihn an und frage ihn, ob ich helfen kann. Wird er mich wahrnehmen? Nein, ich vermag es nicht zu verhehlen: Mein Herz klopft heftig und ich habe Angst.
  »Sir, darf ich Ihnen behilflich sein?«
  Keine Reaktion. Vielleicht ist er aber auch bloß schwerhörig.
  »Ist Ihnen nicht gut?«, schreie ich ihn förmlich an, doch er bemerkt mich nicht.
  Ich muss ihn berühren, muss ihn aufrütteln. O Schreck! Meine Hand verschwindet in seinem Körper! Ich bin also eines von diesen grauen Wesen! Aber was bin ich wirklich? Ein Geist, losgelöst von seinem stofflichen Leib? Ein wandelndes Gespenst? Bin ich gar tot? Oder erleide ich nur wieder einen dieser vom Vollmond beeinflussten Albträume?
  Stundenlang irre ich in der Stadt umher. Der Schatten um meinen Körper schluckt alles Licht. Von Furcht getrieben, laufe ich die Straßen entlang, durchquere Häuser, Mauern und Glas, gleite durch Bäume, Hunde und Menschen. Materie ist für mich jetzt kein Hindernis mehr. Das Leben selbst existiert wohl in einer gänzlich anderen Dimension als ich. Beim letzten Versuch, mir Gehör zu verschaffen, ramme ich gegen die Grauen, und hart pralle ich von ihnen ab. Endlich habe ich jemand auf meiner Ebene gefunden! Immer wieder stoße ich die Schattenwesen an, schubse sie, rufe ihnen zu. Sie aber ignorieren mich, lassen mich mit all den brennenden Fragen allein. In meiner Verzweiflung folge ich ihnen, statt mich beleidigt und enttäuscht abzuwenden. Sie sind doch jetzt meine Gefährten! Warum nur beachten sie mich nicht? Weshalb heißen sie mich nicht willkommen in ihrer Welt? Bald stelle ich allerdings fest, dass sie auch miteinander nicht sprechen, sich aus dem Wege gehen, jeder stur in seine eigene Richtung, hirnlosen Maschinen gleich. Werde ich irgendwann genauso sein wie sie?
  Den ganzen Tag bin ich auf den Beinen gewesen, ohne zu rasten, zu essen, zu trinken. Dabei bin ich nicht einmal müde geworden. Was ist das bloß für ein seltsamer Zustand, in dem ich mich gerade befinde! Ich brauche jetzt Klarheit; daher muss ich zurück in meine Wohnung. Was aber erwartet mich dort? Möglicherweise liegt da mein Körper kalt und steif im Bett oder verrenkt und leblos am Boden in der Diele. Vielleicht sitzt er starr im Lehnsessel wie ein Denkmal der Vergangenheit. Ist fünf Minuten vor Mitternacht meine Todeszeit? Warum vermag ich mich an nichts zu erinnern? Kein Schmerz, kein Sterben. Ich war ja nicht einmal krank!
  Werde ich nun als Schattenwesen bis in alle Ewigkeit durch Kälte und Düsternis wandern müssen oder eines Tages hinabsteigen in mein tiefes, ruhiges Grab und mich mit meinem toten Körper vereinigen? Bin ich überhaupt noch von dieser Welt oder schon reduziert auf mein Bewusstsein? Keine der grauen Gestalten kommt zu mir und steht mir bei. Es scheint, als existiere jeder von uns für sich allein. Dies ist nicht das Paradies, das man uns versprochen hat!
  Betrübt mache ich mich auf den Heimweg. Die Angst ist mein ständiger Begleiter. Sie weicht nicht von mir, lauert wie ein Dämon - wartend, lähmend, verstörend. Da Schlüssel jetzt nicht mehr vonnöten sind, betrete ich mein Haus gleich durch die Wand. Sicher bin ich tot und wahrscheinlich bin ich um fünf Minuten vor Mitternacht in meinem Lieblingssessel gestorben.
  Genug der Spekulationen, ich will Gewissheit!
  Langsam und mit pochendem Herzen gehe ich den Flur entlang, bleibe dann vor der Tür zum Wohnzimmer stehen. Zitternd umfasst meine Hand den Griff. Kalter Schweiß perlt mir auf der Stirn. Ich drücke die Klinke nieder, schließe meine Augen, und während ich die Tür aufstoße, denke ich bei mir: »Vollmond, ich flehe dich an! Lass es ein Traum sein! Lass mich aufwachen! Ich will aufwachen!«

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