Zu gerne möchten wir Menschen wissen, was uns nach dem Tod erwartet. Mangels wissenschaftlicher Beweise stützen wir uns auf religiöse Vorstellungen, Legenden und Wunschbilder. So hat ein jeder seinen eigenen Traum: Der eine glaubt an die Wiedergeburt, der andere an eine von Geistern bevölkerte Sphäre, und Mr Howard, den Sie, mein sehr geehrter Leser, gleich kennenlernen, hofft wie die meisten Leute auf ein ewiges Leben im Paradies.
Mr Howard musste das Bett hüten. So harrte er bereits seit einer Woche aus und dachte, nun bald in das Jenseits einzugehen. Der Arzt hatte ihm gesagt, er werde nicht lange leiden und der Tod an sich sei schmerzlos. Der Pfarrer hatte gemeint, er könne frohgemut sein Leben beenden, denn er sei ein guter Christ gewesen und habe am Tag des Jüngsten Gerichts nicht viel zu befürchten. Außerdem sei sein Schicksal besiegelt, und wenn Gott die letzte Stunde eingeläutet habe, sei alles Wehgeschrei ohnehin umsonst.
Die lieben Verwandten, die Mr Howard noch einmal zu sich gerufen hatte, waren stets nett und hilfsbereit gewesen, hatten sich aufopferungsvoll um ihn gekümmert und ihm jeden erdenklichen Wunsch von den Augen abgelesen. Selbst jetzt trösteten sie ihn. Kein Einziger ließ ihn im Stich. Das lag wohl nicht zuletzt daran, dass er eine große Familie hatte und einen schönen Batzen Geld besaß. Wer davon etwas abbekommen wollte, musste schon dafür sorgen, dass er nicht in Vergessenheit geriet. Weil Mr Howard auch längst die neunzig überschritten hatte, warteten seine Angehörigen bereits seit einigen Jahrzehnten sehnsüchtig auf seinen Abgang.
Nun war Mr Howards Uhr abgelaufen, und eigentlich hatte er keinen Grund, unzufrieden zu sein. Trotzdem verließ er das Diesseits nicht gerne. Hier gab es all die Dinge, die ihm lieb waren: den Boden, auf dem er lief, das Haus, in dem er wohnte, die Menschen, die ihm nahestanden, die Bäume, die Sauerstoff und Schatten spendeten, die Luft, die er atmete, die Vögel, die immer dasselbe Lied in den Zweigen pfiffen, die Gestirne, die am Himmel zuverlässig ihre Bahnen beschrieben, den Hund von nebenan, der zu oft lautstark kläffte, das launische Wetter, zwar unberechenbar, doch stets gegenwärtig. Vieles war ihm so ans Herz gewachsen, dass er es sicherlich vermissen würde. Nein, er hatte wahrlich keine Lust zu einer Reise ins Ungewisse! Aber es ist ein Naturgesetz, dass ein altersschwacher Mann irgendwann sterben muss, und niemand kann dieses eherne Gesetz aufheben.
Vor Mr Howards geistigem Auge zog ein ganzes Leben vorüber: die traurige Kindheit in einem tristen Vorort, die Schulzeit, die ihm seine Klassenkameraden verleideten, der erste Erfolg, die große Liebe, die zugleich eine große Enttäuschung war, der Aufstieg zum geachteten und bewunderten Mann, der Reichtümer und Macht hatte, die Frauen, die sich plötzlich um ihn rissen, die alten Bekannten, die sich bei ihm einzuschmeicheln versuchten, die Eheschließung mit der Schönsten aus einer Schar von habsüchtigen Verehrerinnen, die Geburt der drei noch gierigeren, nur auf ihr Erbe erpichten Kinder, das Attentat, bei dem die Frau umkam, die Verleumdungsaffäre und der Bestechungsskandal, der Konkurrent, den er arglistig aus dem Weg räumte, die Verrückte, die ihn mit ihren Liebesschwüren terrorisierte, Familienfeiern und Familienfehden, die Urlaubsreisen und die Bildersammlung, die Villen und die Luxuslimousinen. Jede Einzelheit aus seinem irdischen Dasein - so banal sie auch war - rauschte ein letztes Mal wie im Zeitraffer an ihm vorbei.
Dann sah er sich schließlich selbst im Schlafzimmer in seinem Bett liegen. Seine bereits ergrauten Kinder und deren Kinder und Kindeskinder hatten sich eingefunden und heulten wie die Klageweiber. Auf diesem Bild ruhten seine Blicke. Die Szene der trauernden Verwandtschaft unterschied sich in nichts von den Szenen aus der Vergangenheit. Sie erschien ihm ebenso unwirklich und verklärt. Alle weinten sie um ihn, ergriffen seine schlaffen Hände, klammerten sich aneinander. Sohn Michael holte aus dem Nachtschränkchen die Bibel hervor und fing an zu beten. Erst jetzt verstand Mr Howard, dass er gestorben war.
Sein ätherischer Leib schwebte knapp unter der Decke und spähte von oben auf die leblose Hülle in den weißen Laken und auf die Hinterbliebenen hinab. Es war makaber, jener rührenden, doch übereilten Abschiedszeremonie beizuwohnen. Irgendwie musste er sich zu den anderen gesellen und ihnen schonend beibringen, dass er noch immer unter ihnen weilte.
Mr Howard betrachtete seinen Körper. Eigentlich hatte er sich gar nicht verändert. Er war jetzt kräftiger, und als er sich mit der Hand über den Kopf fuhr, spürte er seit über vierzig Jahren erstmals wieder dichtes Haar. Seine Haut war glatter, der Mund voll echter Zähne, und obwohl er keine Brille trug, sah er alles ganz deutlich. Jedes Wort, das seine Angehörigen sprachen, vernahm er nun auch ohne Hörgerät. Das Herz schlug stark wie in der Jugend, er war vital und atmete mühelos. Sein Gehirn lief auf Hochtouren, und plötzlich erinnerte er sich an tausend Dinge, die er schon vor einer Ewigkeit vergessen hatte. Er fühlte sich gesünder und vollkommener als je zuvor in seinem irdischen Dasein. Er musste unbedingt seiner Familie mitteilen, wie wunderbar es ist, tot zu sein.
Im Zeitlupentempo segelte Mr Howard von der Decke herab. Dann setzte er lautlos auf dem Boden auf. Mit den Lebenden in Kontakt zu treten, gestaltete sich allerdings schwieriger als erwartet. Er klopfte den Anwesenden auf die Schulter, umarmte sie und redete sie an, aber die meisten Leute sind für Geister wenig empfänglich. Daher fand sich keiner, der ihn bemerkte. Alle konzentrierten sich nur auf den Leichnam in den Kissen.
So ging Mr Howard zu seinem toten Körper hin und ließ sich auf der Bettkante nieder. Ungläubig beäugte er die reglose Hülle, strich ihr über die Glatze und musterte den bleichen, zahnlosen Mund, der ziemlich eingefallen und hohl wirkte. Schließlich begann er die Runzeln zu zählen, die das Leben ohne Erbarmen in sein Gesicht gegraben hatte. Da fuhr ihm ein Gedanke durch den Kopf: Vielleicht war er noch gar nicht tot! Vielleicht durchlief er gerade ein Übergangsstadium. Möglicherweise wäre er wieder am Leben, wenn er in jenen Körper zurückkehrte. Bloß wusste er nicht, wie er das bewerkstelligen sollte. So legte er sich einfach mit dem Rücken auf den Leichnam, und tatsächlich verschmolzen die beiden Leiber zu einem einzigen. Aber kaum war diese Reanimierung abgeschlossen, spürte Mr Howard all die bereits vergessenen Schmerzen erneut. Er versuchte zu atmen, doch es fiel ihm so schwer. Er konnte nicht einmal die trüben, leeren Augen öffnen, geschweige denn irgendeine sichtbare Regung zeigen. Nein, mit diesem klapprigen, ausgedienten Körper wollte er sich nicht länger herumplagen. Also erhob er sich von seinem Lager und ließ seine irdische Hülle zurück.
Just als Mr Howard am Fenster vorüberging, traf ihn ein weißer Lichtstrahl. Da ihn hier nichts mehr hielt, wollte er nun gerne erkunden, was es mit dem grellen Schein auf sich hatte. Die Quelle des Leuchtens, so meinte er, befand sich weit entfernt, am Ende eines langen Weges durch eine dunkle Röhre, die direkt hinter dem Fenster begann. Mr Howards ätherischer Leib durchdrang ohne Mühe die Glasscheibe und bewegte sich auf geistigen Befehl durch den schwarzen Tunnel. Dort lauerten einige unliebsame alte Bekannte, die ihn beschimpften und bespuckten und ihm mit kreischenden und jammernden Stimmen seine kleineren und größeren Vergehen vorwarfen. Doch kaltschnäuzig, wie er war, ließ er sich von den düsteren Gestalten nicht beirren. Stur verfolgte er den Weg durch den unheimlichen Verbindungskanal und siehe da! Er war angekommen.
Von Licht durchflutet, lag jetzt eine weite, schier endlose Landschaft vor Mr Howard, die alles in den Schatten stellte, was er je in seinem Leben gesehen hatte. Beinahe ehrfürchtig von der Schönheit und Erhabenheit seiner neuen Heimat berührt, blickte er sich um. Bunte Blumenwiesen und saftig grüne Ziersträucher, glitzernde Flüsse und sanfte Erhebungen erstreckten sich bis zum Horizont. Auf wundersame Weise leuchteten die Blüten, das Grün und alles Wasser aus sich selbst heraus. Es gab keine Sonne und kein Dunkel mehr, keine Dämmerung und keine Nacht.
Mr Howard war außer sich vor Freude. Dieses Meer aus Lichtstrahlen übertraf seine Erwartungen in jeder Hinsicht. Was er auch über Jenseitsvisionen gelesen und wie immer er sich die Gärten der Ewigkeit ausgemalt hatte - das Paradies war ungleich anmutiger, als der genialste Poet der Welt es je hätte beschreiben können. Er riss die Arme hoch und vollführte Luftsprünge, kullerte über die Wiesen und tollte auf dem Blütenteppich herum, ohne müde zu werden. Nach einer Weile hielt er jedoch inne.
Dies war ein heller und überaus entzückender, aber anscheinend sehr einsamer Ort, denn Mr Howard hatte noch keinen anderen Paradiesbewohner gesehen. Inzwischen hatte er jedes Gefühl für Zeit verloren und wusste nicht, wie lange er bereits hier verweilte, doch angesichts der vielen Todesfälle, die sich in der Geschichte der Menschheit ereignet hatten, machte ihn die offenkundige Leere des Jenseits stutzig. Nach kurzer Überlegung kam er zu dem Schluss, dass diese Gefilde wohl recht ausgedehnt sein mussten.
Auf der Suche nach einem Begleiter blieben ihm demnach zwei Möglichkeiten. Entweder zog er einfach los, in der Hoffnung, irgendwann zufällig auf jemanden zu treffen, oder er ging zurück zum Eingang und wartete auf den nächsten Neuankömmling. Letzteres erschien ihm zwar erfolgversprechender, der Weg zum Verbindungstunnel war jedoch unauffindbar, denn Mr Howard hatte in der unwirklichen Umgebung, die in jeder Richtung gleich aussah, völlig die Orientierung verloren.
Ein erstes Unbehagen beschlich ihn. Das Paradies war zweifellos konstruiert worden, denn diese Landschaft wies eine in sich geschlossene Ordnung auf. Daher kam er zu folgender Erkenntnis: Es gibt einen Gott! Von Panik erfasst, stieß er einen hilflosen Schrei aus. Er rief nach anderen Wesen, nach jemandem, der ihm erklären konnte, was hier vor sich ging, aber niemand hörte ihn, und schließlich sank er betrübt zu Boden. Ein Gedanke schoss ihm wieder und wieder durch den Kopf - stets stellte er sich die alles entscheidende Frage: Warum ist das Paradies leer?
Mr Howard zermarterte sich das Hirn. Kann sein, dass diese Gärten wirklich zu weitläufig waren, um auf Schritt und Tritt Menschen zu begegnen. Vielleicht war das Paradies ja auch unendlich groß. Das war überhaupt die Lösung! In einem unendlich großen Gebiet ist es sehr wahrscheinlich, dass sich selbst ein paar Milliarden Leute irgendwo verlaufen und man höchstens durch Zufall auf einen anderen trifft. Doch Mr Howard wollte sich nicht so recht mit der Idee anfreunden. Eine immaterielle Welt überstieg schon sein Vorstellungsvermögen. Er wollte besser gar nicht damit anfangen, über einen Raum nachzudenken, der für Lebende unerreichbar war, außerhalb der Zeit existierte und obendrein keine Grenzen hatte. Nein! Das war wirklich zu abstrakt.
Von solch unsinniger und fruchtloser Grübelei wurde Mr Howard ganz schwindelig. Er brauchte unbedingt Ablenkung. Am besten, er tat etwas, wobei man nicht viel überlegen muss. Ein Lächeln huschte um seine Lippen, als er sich umblickte. Wie wäre es denn, wenn er ein paar der vielen bunten Blumen pflückte? So machte er sich gleich an die Arbeit und begann, sie einzusammeln. Die Blüten rochen süßlich, fühlten sich kühl an und hatten kein Gewicht. Sein Strauß wurde riesig, aber es wollte ihm nicht gelingen, von jeder Art ein Exemplar zu finden. Die Mannigfaltigkeit in jenem Garten schien unerschöpflich.
Jenseits, Ewigkeit, Unendlichkeit, Raum und Zeit - dies waren Begriffe, die Mr Howard Angst einflößten, weil er ihren tieferen Sinn nicht verstand. Deshalb nahm er sich vor, das Paradies von nun an so zu akzeptieren, wie es war. Er wollte einfach nur weitergehen und abwarten. So wanderte er immerzu; das Laufen wurde zum Inhalt seiner Existenz. Er überquerte Bäche, stieg Hügel hinauf und wieder hinunter und sann nicht länger über die Endlosigkeit des Gartens und seine geheimnisvolle Künstlichkeit nach.
Mr Howard nahm alles als unabänderlich hin: den ewig hellblau leuchtenden Himmel ohne Sonne und ohne Wolken, die bunt schimmernden Blumen und die glitzernden, leise rauschenden Bäche. Er brauchte weder Erholung noch Schlaf, bekam niemals Hunger oder Durst. Sein neuer Körper funktionierte wie ein Uhrwerk. Da Zeit im Paradies nicht messbar war, hatte sie für ihn jegliche Bedeutung verloren. Er schlenderte unablässig allein durch die grüne Flur ohne Ziel, ohne Sinn, aller Aufgaben ledig, aller Sorgen enthoben, bar jeder Mühsal - ein freier Geist.
* * *
Irgendwann erblickte Mr Howard in der Ferne eine flackernde Lichtquelle. Bildeten die Strahlen etwa den Eingang zu einem anderen Garten des Paradieses oder gar den Zugang zur Welt der Lebenden? Mr Howard zögerte nicht lange und schlug schnurstracks den Weg dorthin ein.
Je näher er an das Phänomen herankam, desto unheimlicher wirkte das Leuchten. Es entstand aus Myriaden kleiner, grellweiß funkelnder Kugeln, die sich zu einem größeren Ganzen verdichteten. Ihr durchdringendes Summen bereitete ihm bohrende Kopfschmerzen. Am liebsten wäre er umgekehrt, doch sein Instinkt sagte ihm, dass diese Entdeckung genauestens erforscht werden musste. So ging er schließlich auf die Lichtquelle zu, hielt aber dennoch Abstand. Er umkreiste sie, betrachtete das Flimmern der Bällchen, die wie winzige Feuer aufloderten und wieder erloschen oder sich als Blitze entluden.
Für einen Moment glaubte Mr Howard das Rätsel gelöst zu haben. All diese Flämmchen konnten nur die Seelen der Verstorbenen sein, und weil sie sich hier zusammengefunden hatten, um miteinander zu kommunizieren, waren die Gärten des Paradieses leer. Doch er verwarf die Idee im Handumdrehen. Was war mit den Menschen passiert, die nach ihm aus dem Leben geschieden waren? Er konnte unmöglich der letzte Ankömmling gewesen sein! Seine Überlegungen führten wieder einmal zu nichts. Wollte er das Geheimnis ergründen, dann musste er unbedingt herausfinden, welche Bedeutung jene merkwürdige Lichtquelle hatte.
Vorsichtig berührte er mit den Fingerspitzen eine der kleinen pulsierenden Kugeln. Wie elektrisiert schrak er zurück und ein leichtes Kribbeln zuckte durch seinen ätherischen Leib. Dann fuhr er mit der rechten Hand in den seltsamen Energienebel. Der Kontakt mit dem unbekannten Etwas fügte ihm offensichtlich keinen Schaden zu; also entschloss er sich, gänzlich in die Wolke einzutauchen.
Im Innern des Gebildes begann er zu schweben und zu schwingen. Eine kaum spürbare, jedoch unnachgiebige Kraft zog ihn immer tiefer und schneller ins Zentrum. Der paradiesische Garten entschwand seinen Blicken. Bald war Mr Howard vollends von dem blendenden Leuchten umgeben und jedes menschlichen Sinnes beraubt. Als die Bewegung zum Stillstand kam, war er am Ziel, aber sein neuer und anscheinend endgültiger Aufenthaltsort missfiel ihm ganz und gar. Die Eintönigkeit des grellweißen Lichts und das ohrenbetäubende Summen behinderten jede Art von Wahrnehmung. Ihm wurde bewusst, dass er mit diesem Meer von Strahlen eins werden musste.
Kaum hatte er den Gedanken gefasst, da war es auch schon geschehen! Mr Howard war nicht länger in dem Phänomen gefangen, sondern er war ein Teil davon. Diese Veränderung beeinflusste sein Denken grundlegend. Alles Komplexe schien ihm nun simpel zu sein. Selbst die Physik des Universums, die ihn in seiner Schulzeit fast in den Wahnsinn getrieben hatte, war doch so einfach wie ein Kinderspiel.
Begriffe wie »Zeit«, »Raum« und »Dimension« konnte er jetzt klar definieren. Er verstand sie, verinnerlichte sie - tatsächlich hatte er sie erfunden! Warum war das Paradies leer? Es gab nur eine mögliche Antwort: Es hatte außer ihm nie ein Mensch diese Gefilde betreten - nicht vor ihm, nicht nach ihm. Er war der einzige Tote im Jenseits, weil er der einzige Lebende im Diesseits gewesen war. Die eine Wahrheit lag in ihm selbst. Es existierten keine Toten und keine Lebenden, es existierten überhaupt keine Menschen! Der Mensch war seine eigene Schöpfung. Materie, Zeit und Raum - alles war sein Werk. Die Gesetze, denen die Natur folgte - er allein hatte sie festgelegt.
Das ganze Universum mit seinen unzähligen Galaxien, die Sonnen, von denen eine seinen Erdenhimmel erhellte, die Felsen und das Wasser, die Pflanzen und die Tiere, die Menschen mit ihrer beschränkten Intelligenz - dies hatte er sich bloß zum Zeitvertreib ausgedacht. Die Entstehungsgeschichte seines Heimatplaneten, historische Ereignisse, Städte und Landschaften, bedeutende Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kunst und Politik - das waren Hirngespinste. Es hatte nie einen Kaiser Nero oder einen Napoleon gegeben, keinen Michelangelo und keinen Vincent van Gogh, genauso wenig wie Isaac Newton und Albert Einstein. Jene Leute samt ihren Hinterlassenschaften waren schmückendes Beiwerk in seiner Phantasiewelt. Es gab weder Wüsten noch Oasen, weder Gebirge noch Ozeane, kein New York und kein Rom, kein Mexiko und kein China, keine Mammutbäume, keine Palmen, keine Kängurus und keine Pinguine, keinen Eiffelturm und keine Pyramiden. Er hatte sich eine Familie nach Wunsch geschaffen und war zum Spaß in eine dieser von ihm konstruierten Kreaturen geschlüpft, um zu erfahren, wie sie die Welt erlebten und mit ihren unzulänglichen Gehirnen versuchten, die Rätsel der Natur und ihrer eigenen Existenz zu entschlüsseln, um dabei doch allzu schnell an die Grenzen ihrer intellektuellen Fähigkeiten zu stoßen. Er hatte dem Leben eine Dynamik und den Menschen ein Bewusstsein verliehen, um ihr Dasein interessanter zu gestalten, und Religionen in das Weltbild eingefügt sowie einen Gott, den er lächerlicherweise selbst angebetet hatte.
Jetzt endlich verstand er! Es gab nur ein Wesen, nur einen Geist - und zwar ihn selbst. Mr Howard war Gott und noch mehr: Er war die einzige Konstante. Mr Howard verkörperte alles Materielle und Immaterielle, alles Räumliche und Zeitliche, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ja die Bewegung durch die Zeit an sich, das Leben und das Bewusstsein, die Erinnerung und die Idee, das Wissen und den Glauben, die Realität und die Phantasie. Er war das Maß aller Dinge, der Schöpfer des Diesseits und des Jenseits, er hatte sich sozusagen selbst erfunden. Er war der erste und letzte Besucher des von ihm entworfenen Gartengeländes; deshalb war das Paradies - sein Paradies - leer.
Durch diese Erkenntnis löste sich Mr Howard von den restlichen Bestandteilen seiner menschlichen Persönlichkeit und wurde wieder zu einem allwissenden, allmächtigen und unsterblichen Wesen, dem in keiner Weise Grenzen gesetzt sind.
* * *
Nun werden Sie, mein lieber Leser, sich fragen, wie es denn möglich ist, dass Sie überhaupt meiner Erzählung lauschen. Offenbar existieren Sie genauso wie ich, abgesehen von den sechs Milliarden Menschen, die über den Erdball verstreut sind. Es gibt dieses Universum und uns beide, es gibt die Menschheit mit ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft.
Doch seien Sie ehrlich! Haben Sie nicht dann und wann das Gefühl, dass irgendeine höhere Macht aus reinem Vergnügen und ohne Mitleid ein bizarres Schauspiel aufführt, in dem wir nur Marionetten sind? Glauben Sie mir, Sie und ich und alle anderen - wir sind nicht wirklich! Es scheint mir eher, dass Mr Howard sich zu sehr gelangweilt und die Welt aufs Neue erschaffen hat. Vielleicht schaut er sogar von fern zu, vielleicht hat er sich auch unter uns gemischt.
Zwei Fragen stehen somit im Raum: Wo ist Mr Howard? Und wann löscht er das Licht?
|