Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band II
Acht Gruselgeschichten & ein Gedicht       ©  2006  Heike Hilpert, Selbstverlag
 Titel
 Vorwort
 Inhalt
 Die Wege des Mr Nolan
 Der Kettenraucher
 Der Flaschengeist
 Der Zombie speist um Mitternacht
 Mr Howard im Paradies
 Die Botschaft
 Der geometrische Hund
 Kleine Plauderei
 Der Vampir
 Information zur Autorin
 Literaturhinweis
 Impressum
Der Zombie speist um Mitternacht

  Stets auf der Suche nach Sensationen, befasst sich die Boulevardpresse gerne mit spektakulären Verbrechen, ungelösten Rätseln und mysteriösen Vorfällen. Ist der Schleier eines Geheimnisses aber erst einmal gelüftet, schwindet das Interesse der Öffentlichkeit schnell. Deshalb schicken einschlägige Zeitungen ihre Berichterstatter auf die Jagd nach Dämonen, Vampiren, Geistern, Monstern und anderen zwielichtigen Gestalten, um ihre Leser mit ständig neuen Meldungen aus der Welt des Unerklärlichen zu unterhalten.

  Matt Henderson war einer jener Reporter. Seit vielen Jahren war er den Wesen der Nacht schon auf der Spur und seine Ermittlungen hatten ihn in die weite Welt geführt. Der unscheinbare Enddreißiger war von mittlerer Größe und klapperdürr. Er verstand es gut, sich hinter seinen Kollegen zu verstecken, wenn es mal brenzlig wurde, und konnte sich auch gewandt nach vorn drängeln, um in der ersten Reihe zu stehen. Seine Gesichtszüge waren ebenmäßig und nichtssagend. Man sah ihn und vergaß ihn - der Allerweltstyp schlechthin. Markant waren nur seine hellgrauen Augen, die stets aufmerksam umherblickten und ihm manchmal den Ausdruck eines hungrigen Greifvogels gaben. Sein angegrautes Haar wirkte farblos und schien im Schwinden begriffen zu sein. Hendersons Gesten waren durch Wachsamkeit geprägt, sein Gang war fast lautlos und seine Stimme schnurrte leise und unaufdringlich. Er tauchte auf und unter, wo und wann immer es die Lage erforderte, und witterte die guten Storys genauso wie die damit verbundenen Gefahren. Er machte seinen Job und er machte ihn hervorragend, vielleicht gerade deshalb, weil er davon überzeugt war, dass er etwas unglaublich Wichtiges tat.
  Vor einer Woche nun hatte man einen neuen Mitarbeiter in seine Obhut gegeben. Luke Parker, ein junger Fotograf, sollte ihn fortan bei den Nachforschungen unterstützen. Im Gegensatz zu Henderson fiel der spindeldürre, hochgeschossene Lulatsch schon durch sein strohblondes Zottelhaar auf. Die Absätze seiner Schuhe hallten, als ob eine ganze Kompanie im Gleichschritt marschierte, und seine schrille Stimme schnitt wie eine akustische Rasierklinge. Obendrein war der Grünschnabel noch unerfahren und überdies ein wenig ängstlich. Henderson reagierte daher ziemlich sauer, als sein Boss dieses Ungeheuer von Praktikant bei ihm abstellte, aber alles Jammern war umsonst. Wenn dir der Enkel des Zeitungsverlegers anvertraut wird, dann musst du die Zähne zusammenbeißen, ob es dir passt oder nicht.


* * *

  »Heute jagen wir einen Mann, der im Verdacht steht, in der kleinen Ortschaft N. nachts auf dem Friedhof Leichen auszugraben und zu verspeisen«, unterrichtete Henderson seinen Schützling.
  »Ein Zombie!«, jauchzte dieser freudig.
  »Parker! Sie scheinen nicht viel von solchen Wesen zu verstehen. Also ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse!«, ermahnte Matt Henderson den Neuling. »Erst müssen wir den Fall gründlich untersuchen. Dazu fahren wir nach N., befragen die Einwohner der Gemeinde und nehmen den Friedhof in Augenschein. Treffen wir dabei auf den Unbekannten, dann schnappen wir ihn uns.«
  »Wenn er ein Zombie ist, wird er uns töten und fressen!«, warf Luke Parker furchtsam ein.
  »Wir müssen lediglich überprüfen, ob überhaupt etwas an der Geschichte dran ist. Außerdem sind wir zu zweit und er ist allein.«
  »Das beruhigt mich nicht gerade, Mr Henderson. Ich sage Ihnen gleich, wir haben keine Chance gegen ihn. Wie sollen wir ihm denn Paroli bieten, wenn er bereits tot ist? O Gott, hoffentlich wird das nicht mein erster und letzter großer Fall!«
  Henderson herrschte den Fotografen barsch an: »Jetzt nehmen Sie sich zusammen, Parker! Ich habe schon ganz andere Sachen überlebt.«


* * *

  »Zuerst sprechen wir mit einer gewissen Mrs Hall«, legte Henderson fest. »Sie hat schließlich unserer Redaktion von den seltsamen Vorfällen berichtet. Mal sehen, was sie uns noch erzählt.«
  Er lief schnurstracks auf Mrs Halls Haus zu und läutete voller Tatendrang. Parker folgte ihm mit wenigen meterlangen Schritten, die Fotoausrüstung unter den Arm geklemmt.
  »Und dass eines klar ist: Ich stelle hier die Fragen!«, schüchterte Henderson seinen Begleiter ein.
  Mrs Hall erschien inzwischen an der Tür und bat die beiden Herren freundlich herein. Auf dem runden Wohnzimmertisch stand bereits Geschirr für drei Personen und in der Mitte lockte eine Schale mit lecker duftendem Gebäck.
  Henderson nippte zurückhaltend an einer Tasse Tee und knabberte genüsslich einen Keks, wobei er galant die Backkünste der Gastgeberin pries. Parker hingegen goss kannenweise das aromatische Getränk in sich hinein und schlug sich gierig den Bauch voll. Dies tat er, ohne zu loben oder sich zu bedanken, aber aus den Mengen, die er verschlang, konnte man ersehen, dass es ihm schmeckte.
  Mrs Hall lieferte Henderson unterdessen wertvolle Informationen über den Mann vom Friedhof. Parker bekam von alldem nichts mit. Er war viel zu sehr mit dem Essen beschäftigt.
  »Seit dieser Kerl hier am Ort ist, habe ich keine ruhige Stunde mehr«, klagte sie den Reportern ihr Leid. »Fast jeden Tag begegne ich ihm und sein grauenhafter Anblick lässt mich immer wieder erschauern.«
  »Versuchen Sie den Mann zu beschreiben, und zwar in allen Einzelheiten!«, forderte Henderson die alte Dame auf.
  »Er sieht ganz entsetzlich aus«, fasste sie ihren Eindruck zusammen. Ihre faltigen, dürren Hände ruhten auf den spitzen Knien, deren Umrisse sich durch den Kostümstoff abzeichneten. Schwere Ringe mit großen Edelsteinen bemühten sich redlich, ihre knotigen Finger zu zieren.
  »Sagen Sie mir einfach alles, was Ihnen zu diesem Mann einfällt, egal ob Sie es für wichtig oder unwichtig erachten, so dass ich mir ein Bild von ihm machen kann«, nahm Henderson einen neuen Anlauf.
  »Er ist sicher einen Kopf größer als Sie - vielleicht wie der junge Herr.« Hierbei zeigte sie auf Parker. »Und er ist sehr kräftig.«
  Nach einer Weile meinte sie: »Sein Gesicht ist hässlich, seine Kleidung strotzt vor Schmutz. Ich sehe diesen massigen, dreckigen Kerl und weiß: Das ist er!«
  Mrs Hall bebte vor Aufregung und ihre Lippen wurden blass. Ihre ohnehin brüchige Stimme versagte. Nervös rückte sie mit der rechten Hand ihre silbernen Locken zurecht und überprüfte den korrekten Sitz der glitzernden Spangen.
  Henderson schoss nur ein Gedanke durch den Kopf: »Ihre Angst ist echt!«
  »Ich glaube, sein Haar ist grau«, fuhr sie fort, »doch meistens hat er einen braunen Schlapphut auf, der einen dunklen Schatten auf sein Gesicht wirft. Er trägt einen ziemlich alten und verschlissenen braunen Anzug, an dem stets Erde klebt. Wenn ich ihm begegne, dann rieche ich förmlich den Tod.«
  »Ist Ihnen sonst noch etwas an ihm aufgefallen?«, bohrte Henderson weiter.
  »Nun, er läuft nie schneller oder langsamer, bewegt sich wie eine Maschine, die auf eine bestimmte Geschwindigkeit programmiert ist. Ich schwöre bei Gott, er ist einer von ihnen!« Ihr Blick spiegelte das blanke Entsetzen wider.
  »Einer von ihnen?« Henderson tat, als ob er nicht verstünde. »Was meinen Sie damit, Mrs Hall?«
  »Na, einer dieser Leute, die sich vom Fleisch der Toten ernähren!« Sie zitterte am ganzen Leib.
  »Das ist eine gewagte Behauptung! Haben Sie dafür irgendwelche Beweise? Gibt es vielleicht Zeugen?« Henderson schaute ungläubig drein. Parker allerdings blieb der letzte Keks im Halse stecken, so dass er schrecklich husten musste.
  »Meine Nachbarin, Mrs Dawson, hat erst vorige Woche beobachtet, wie er in der Dämmerung auf dem Friedhof Särge aushob und wenig später am offenen Grab aß.«
  Henderson war skeptisch. Zwei ältere Damen mit blühender Phantasie hatten einander Angst gemacht und die Geschichte vom Leichenfresser in die Welt gesetzt. Endlich gab es in N. wieder ein Thema, worüber zu sprechen sich lohnte! Aber konnte es sich dabei nicht ebenso gut um ein Hirngespinst handeln?
  Als Henderson so sinnierte, schrak Mrs Hall urplötzlich zusammen. Mit ihrem langen, bleichen Zeigefinger deutete sie auf das Fenster. Henderson drehte sich um. Er sprang vom Stuhl auf und rannte zur Tür, stieß sie auf und stürzte in den Garten hinaus. Gerade noch sah er in der Ferne einen Mann, der in Richtung Marktplatz trottete.
  »Parker, kommen Sie!«, schrie er. »Schnell, Parker, nichts wie hinterher!«
  Der Fotograf trat unentschlossen ins Freie.
  »Vielen Dank, Mrs Hall!«, rief Henderson, packte seinen neuen Kollegen am Arm und zog ihn mit sich fort.
  Die beiden Sensationsreporter nahmen gleich die Verfolgung auf, doch der Vorsprung des verdächtigen Mannes war groß. Im Marktgetümmel verloren sie ihn. Unverrichteter Dinge kehrten sie schließlich in die Seitengasse mit den netten Häuschen zurück ...
  Henderson hielt es für hilfreich, sich nun auch Mrs Dawsons Geschichte anzuhören. Er war gespannt, was die Nachbarin der gastfreundlichen Mrs Hall ihm auftischen würde. Und Mrs Dawson übertraf Mrs Hall in jeder Hinsicht: Sie war noch älter, noch dünner und noch großzügiger.
  Henderson naschte bescheiden vom selbst gebackenen Kuchen, während Parker sich gut die Hälfte davon einverleibte. Indessen berichtete Mrs Dawson von ihrer nächtlichen Begegnung.
  »Mein Mann ist erst seit sechs Wochen tot«, schluchzte sie.
  »Das tut mir sehr leid!«, warf Henderson ein.
  »Ich besuche meinen verstorbenen Mann jeden Abend auf dem Friedhof. Dann rede ich mit ihm, erzähle ihm, was in der Nachbarschaft passiert ist. Er war nämlich sehr neugierig. - Ach ja! Das waren noch Zeiten, als er die Leute von gegenüber mit dem Fernglas beobachtete und Wanzen in den Wohnungen unserer Bekannten anbrachte!« Ein seliges Lächeln huschte über ihr Gesicht.
  Henderson fand das gar nicht komisch und dachte bei sich, dass der alte Dawson auf dem Gottesacker gut aufgehoben sei.
  »Wenn ich vor seinem Grab stehe, habe ich das Gefühl, dass er bei mir ist und wir bald im Himmel vereint sind«, plapperte die Witwe gedankenverloren und kam somit ziemlich vom Thema ab.
  »Sie wollten mir doch von Ihrem Zusammentreffen mit dem Mann vom Friedhof erzählen«, lenkte Henderson deshalb das Gespräch wieder in die zweckdienliche Richtung.
  »Ja, so ist es«, meinte Mrs Dawson daraufhin. »Nun, ich hatte mich einmal verspätet und es war beinahe dunkel, als ich am Grab meines Mannes eintraf.« Sie drückte eine Träne ins Taschentuch. »Ich war die einzige Besucherin auf dem ganzen Kirchhof, bis dieser schaurige Unhold auftauchte. Er trug einen Spaten bei sich und hielt eine ausgebeulte Aktentasche unterm Arm. Sein Gang war schleppend und trotzdem bestimmt. Er bewegte sich ganz gleichmäßig - wie ferngesteuert. Das war unheimlich, Mr Henderson. Ach, ich kann es Ihnen nicht anschaulich genug beschreiben! Sie müssten es mit eigenen Augen sehen. Er lief durch die Reihen und schaute weder rechts noch links. Ich hatte den Eindruck, dass er sich bestens auskannte. Dann begann er, ein Grab auszuheben. Er schaufelte mechanisch. Ich fürchtete mich schrecklich und schlich daher vorsichtig vorwärts. Selbst beim geringsten Geräusch meiner Schritte zuckte ich zusammen. Mein Herz blieb fast stehen, als ich in seine Nähe kam, und als ich hinter ihm war, stockte mir schier der Atem. Er aß! Mr Henderson, stellen Sie sich mein Entsetzen vor! Ich stieß einen gellenden Schrei aus und rannte davon. Glauben Sie mir, so schnell bin ich nie zuvor auf den Beinen gewesen! Aber der Gedanke, dass ich vielleicht auf dem Speiseplan dieses Ungeheuers landen würde, versetzte mir einen solchen Schock, dass ich nur mehr lief und lief und nicht mal weiß, wie ich überhaupt nach Hause gelangt bin.«
  »Hat er Sie verfolgt?«, fragte Henderson.
  »Ich weiß nicht. Ich kann mich an keine weiteren Einzelheiten erinnern. Ich konnte doch gar nicht begreifen, was um mich herum geschah! Ich stand praktisch neben mir.«
  Mrs Dawson begann vor Aufregung zu zittern. Der Vorfall hatte sie wohl ziemlich mitgenommen. Henderson fand, dass es Zeit war, zu gehen. Er entschuldigte sich für die Mühe, die er und sein Partner ihr bereitet hatten, und bedankte sich artig für ihre Gastlichkeit. Parker verabschiedete sich schmatzend und stopfte sich schnell noch ein Stück Kuchen in den Mund. Mrs Dawson lächelte mild und weinte leise und fing ihre Tränen in einem Spitzentaschentuch auf.


* * *

  »Das war vielleicht ein Tag!«, stöhnte Henderson, während er die letzten Stunden Revue passieren ließ. Erst diese scheinbar endlose Fahrt in das entlegene Kaff, dann die wenig ersprießlichen Gespräche mit den beiden überängstlichen Damen, die sich wahrscheinlich bloß wichtigmachen wollten, weil sie sich nach Aufmerksamkeit sehnten, und schließlich jener unbekannte Mann, der sich auf höchst zwielichtige Weise auf dem Dorffriedhof betätigte - in was für eine verquaste Geschichte war er da wieder hineingeraten!
  Henderson musste unwillkürlich lachen, als er an die missglückte Verfolgung des Verdächtigen dachte. Zu allem Übel ging ihm sein neuer Mitarbeiter entsetzlich auf die Nerven. Nicht nur, dass der junge Parker fraß wie eine neunköpfige Raupe und sein Benehmen nicht gerade fein war! Er schwatzte auch ständig von Zombies und Kannibalen und brachte ihm all das Pseudowissen bei, das er beim Ansehen unzähliger schlechter Horrorfilme erworben hatte. Henderson mochte gar nicht mehr hinhören, wenn Parker zu reden begann. Als er die Tür seines Nachtquartiers in einer kleinen und eher bescheidenen Pension hinter sich schloss, war es eine Befreiung für ihn.


* * *

  Der zweite Tag in N. verlief wie der erste und der dritte wie die beiden Tage zuvor. Parker wurde niemals satt, verspeiste alles, was genießbar war, und nahm dabei nicht ein Pfund zu. Henderson recherchierte gründlich, doch ergebnislos. Er befragte fast jeden Einwohner des Ortes, erhielt aber stets dieselben Antworten. Alle wussten von diesem Mann und meinten zu wissen, was er tat; dennoch kannte keiner auch nur seinen Namen. Also entschloss sich Henderson kurzerhand dazu, seinen Boss Gallagher anzurufen, um die Erlaubnis zur Einstellung dieser nutzlosen Nachforschungen einzuholen. Der Chef jedoch zeigte sich unerbittlich.
  »Warum wollen Sie jetzt schon die Flinte ins Korn werfen? Sie sind ja gerade erst angekommen!« Seine Stimme klang verständnislos.
  »Nun, Mr Gallagher, ich glaube, hier gibt es einfach keine Story«, begründete Henderson sein Anliegen. »Alles, was ich habe, sind zwei von Hirngespinsten besessene, alleinstehende alte Damen, die sich die meiste Zeit schlichtweg langweilen und fremden Leuten gerne ihr Herz ausschütten, weil ihnen sonst niemand zuhört. - Ach! Und dann ist da noch jener Herr in Braun, den mein neuer Kollege stets ›Zombie‹ nennt, obwohl er dieses Wort bloß aus Horrorfilmen kennt.«
  »Henderson!« Gallagher dehnte den Namen seines Untergebenen beim Sprechen verdrießlich in die Länge. »Ich bin sicher, Sie finden heraus, was dahintersteckt. Sie sind mein bester Mann! Bleiben Sie einfach am Ball.« Wenn der Boss sich einmal in etwas verbissen hatte, war er nicht so leicht davon abzubringen. Obgleich er natürlich ebenso wusste, dass die ganze Angelegenheit mehr als fragwürdig war, hielt er Henderson in N. fest. »Sie sind der Einzige, der den Mut hat, dieser Geschichte auf den Grund zu gehen«, schmierte er ihm Honig ums Maul. »Wissen Sie, die Geister, die sich hin und wieder ablichten lassen, die Seeungeheuer, die hier und da mal auftauchen, die Spukorte, die Psychokinese-Phänomene - all das untersuchen andere Reporter fast genauso zuverlässig wie Sie. Wenn es aber gefährlich werden kann, dann kneifen die Feiglinge. Ein heißes Eisen fassen nur Sie richtig an. Ich brauche Sie in N.!«
  »Und was wird mit Parker?« Henderson versuchte, zumindest dieses Problem zu beseitigen.
  »Parker?« Gallagher tat erstaunt. »Was soll mit ihm werden? Er wird Sie weiter unterstützen.«
  »Unterstützen?!« Henderson lachte ins Telefon. »Dieses Bürschchen soll mich unterstützen? Der steht mir ja bloß im Wege! Der Junge ist mir ein Klotz am Bein. Er frisst und faulenzt den ganzen Tag und geht mir gehörig auf den Geist. Parker ist eine unerträgliche Nervensäge.«
  »Hören Sie, Henderson!«, entgegnete Gallagher. »Was Ihre Zusammenarbeit mit Luke Parker betrifft, so müssen Sie sich schon beim alten Parker persönlich beschweren. Ich kann daran gar nichts ändern. Unser gemeinsamer Boss hat sich nun mal in den Kopf gesetzt, seinen Enkel zum Pressefotografen auszubilden. Und von keinem kann er schließlich so viel lernen wie von Ihnen. Sie sind doch der Starreporter unserer Zeitung! Führen Sie einfach Ihren Auftrag aus.«
  Es knackte in der Leitung. So scheiterte Hendersons Versuch, die sinnlosen Erkundungen in N. zu beenden.


* * *

  Die Nacht senkte sich langsam über die Ortschaft N. Henderson saß auf der Bettkante und grübelte. Wenn er jemals dieses Nest verlassen und Parker wieder loswerden wollte, dann musste er etwas unternehmen. So fasste er einen folgenschweren Entschluss ...
  Energisch pochte Henderson an Parkers Tür. »Machen Sie auf! Sie haben heute Nachtdienst.«
  Verdutzt öffnete der Fotograf. Er stand da in Unterhosen und kaute noch an seinem Abendimbiss. Anscheinend hatte er sich soeben ein Brötchen quer in den Mund geschoben, denn sein dürres Gesicht war irgendwie aus der Form geraten.
  »Nachtdienst?«, murrte er, gierig schluckend.
  »Ja«, erwiderte Henderson knapp. »Ziehen Sie sich warm an! Es kann etwas länger dauern. In fünf Minuten treffen wir uns unten. Alles Weitere erkläre ich Ihnen später.«
  Parker wunderte sich sehr. Er hasste seinen Partner für dessen Unberechenbarkeit. Griesgrämig knurrend kleidete er sich an. Da musste er bereits den ganzen Tag von Haus zu Haus hetzen und sich immer neue Schauermärchen von diesem Leichenfresser anhören, und nun durfte er nicht mal mehr in Ruhe zu Abend essen.
  Als er sein Zimmer verließ, warf er einen hungrigen Blick auf die leckeren Sandwiches, die hübsch nebeneinander auf dem Tisch lagen und nur darauf warteten, endlich von ihrem Käufer verspeist und verdaut zu werden.


* * *

  »Wo gehen wir jetzt hin? Wem statten wir einen Besuch ab?«, erkundigte sich Parker nach dem Grund für Hendersons Attacke gegen seine Nachtruhe und seinen gesunden Appetit.
  »Wir laufen zum Friedhof und warten auf unseren alten Bekannten.«
  »Aber - aber -!« In Parker keimte ein Verdacht. »Das ist nicht Ihr Ernst!«, meinte er kopfschüttelnd, wobei ihm das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand. »Sie wollen doch nicht etwa mit dem Zombie zusammentreffen?!«
  »Allerdings möchte ich das«, bestätigte Henderson Parkers bange Ahnung. »Es ist die einzige Möglichkeit, herauszufinden, ob wirklich etwas Wahres an dieser Sache dran ist«, erläuterte er sein Vorhaben.
  »Das ist - oh!«, stammelte Parker fassungslos. »Es ist gefährlich! Er wird Sie töten und vergraben oder töten und danach auffressen. Sie werden nicht davonkommen.« Mittlerweile dämmerte es ihm. »Was soll ich eigentlich dabei tun? Ich meine, Sie sind ja der berühmte Reporter! Sie sind wagemutig und erfahren. Sie können mit solchen Situationen bestens umgehen. Sie brauchen mich doch gar nicht!« Parkers Augen bekamen einen bettelnden Ausdruck und seine Stimme klang beinahe weinerlich. »Sie werden bestimmt auch ohne mich mit ihm fertig. Ich verstehe nicht, weshalb Sie mich überhaupt mitnehmen.« Er lachte gezwungen. »Ich kann Ihnen nicht helfen, Mr Henderson. Wissen Sie, ich bin zwar relativ groß, aber sehr ungelenkig. Ich habe wenig Kraft und beherrsche keine einzige Kampfsportart. Wenn er also angreift, werde ich ihm keinen Widerstand leisten können. Er wird mich mit seinem Spaten einfach niederstrecken und dann bin ich sofort mausetot. Sie werden ganz allein sein.« Parker starb fast vor Angst.
  »Nun reißen Sie sich mal zusammen!«, ermahnte Henderson den Praktikanten. »Sie bleiben hinter mir und ich rufe Sie nur im Notfall. Ich werde mit ihm reden, und wenn Sie sich nicht wieder wie ein Trampel benehmen, wird er Sie gar nicht bemerken. In der Zwischenzeit sollten Sie versuchen, ein paar stimmungsvolle Bilder zu schießen. Friedhöfe bei Nacht verkaufen sich immer gut.«
  Parker hatte zwar Respekt vor Hendersons journalistischer Arbeit, jedoch traute er ihm nicht zu, den Appetit des mutmaßlichen Leichenfressers während des Interviews zu zügeln. Ihn beruhigte die Aussicht, Abstand halten zu können, keineswegs. Was würde es ihm schon nützen, wenn er den Starreporter um fünf Minuten überlebte! Er konnte bloß hoffen, dass die Bestie keinen großen Hunger hatte und ihm genug Zeit für den Rückzug blieb.
  Als Henderson die Türklinke am Eingangstor niederdrückte und das Eisengitter sogleich aufsprang, befürchtete Parker das Schlimmste. »Muss ein Friedhof bei Nacht nicht geschlossen sein?«, fragte er besorgt.
  »Ich habe keinen blassen Schimmer, wie das hier üblich ist«, antwortete Henderson gelassen.
  »Sicher ist er bereits da.« Parker blickte sich nach allen Seiten um, aber es war gar nicht so leicht, in der Dunkelheit irgendetwas zu erkennen. »Er wartet auf seine Opfer!«, prophezeite der Praktikant. »Bestimmt hat er das Schloss aufgebrochen.«
  »Die Tür ist wahrscheinlich schon ewig kaputt«, versuchte Henderson die Bedenken seines Fotografen zu zerstreuen. »Und wie soll er uns denn erwarten, wenn er nicht mal weiß, dass wir überhaupt hier sind?«
  Hendersons Logik verblüffte Parker, doch ein ungutes, beklemmendes Gefühl überkam ihn und benahm ihm fast den Atem.
  Die Nacht war windstill und feuchtkalt, der Himmel wolkenverhangen. Ab und an blinkte ein Stern, dann und wann zeigte sich auch der leuchtende runde Mond. Die Luft lag schwer über der Stadt, der Regen hatte die Wege aufgeweicht, es roch nach faulem Laub und Erde. Bei jedem Schritt gab der Boden etwas nach, so dass es förmlich schmatzte.
  Parker ging nur zögernd voran und tappte hin und wieder in eine Pfütze. Alles schien sich gegen ihn verschworen zu haben, und wenn hier und da ein Blatt raschelte, verstand er es als Warnung. Die schwarzen Bäume ringsum wirkten auf ihn wie stumme Wächter böser Mächte und die Grabsteine und Kreuze wie Zeugen manch schauriger Tat. Ein Grauen ergriff ihn und lähmte seine Sinne, vor allem aber seinen Verstand. Als ein Hund in der Ferne herzzerreißend zu heulen begann, fiel ihm vor Schreck die Kamera hinunter in den Dreck.
  »Sagen Sie bloß, hier gibt's auch noch Werwölfe!«, klagte er, während er sich nach der Fotoausrüstung bückte. »Immerhin ist ja Vollmond«, fügte er erklärend hinzu.
  Henderson brummte vor sich hin. Er bereute es, Parker für sein Unterfangen eingespannt zu haben. »Passen Sie gefälligst auf Ihre Kamera auf!«, fuhr er ihn an.
  In diesem Moment vernahmen die beiden ein Geräusch - ein gleichförmiges Klopfen ...
  »Es kommt von da!«, flüsterte Henderson und zeigte mit dem Arm nach links.
  Unterdessen zog ein heftiger, böiger Wind heran. Die dunkelgrauen Wolken jagten am Himmel, die Wipfel der Bäume raunten, die Zweige knisterten. Urplötzlich prasselte ein Schauer auf das dichte Blattwerk der alten Buchen, das Henderson und Parker als Regendach nutzten.
  Kaum, dass das Unwetter vorüber war und der Sturm wieder abflaute, hörten die beiden Reporter erneut das dumpfe Pochen. Henderson schlug den Weg nach links ein. Parker schlich verschüchtert hinterdrein. Schon kurze Zeit später wurden sie eines Mannes gewahr, der zu den Klopflauten auf und nieder wippte. Henderson hielt inne und bedeutete Parker, sich ruhig zu verhalten.
  So harrten die Großstadthelden nun in einiger Entfernung aus und sahen dem Mann bei seinem berüchtigten Treiben zu, als er sich mit einem Spaten an einer Grabstätte zu schaffen machte. Das Poltern und Knacken drang bis zu den Reportern, doch ein Strauch mit dichtem Geäst versperrte ihnen die Sicht auf das Grab und seinen Schänder. Während dieser ohne Unterlass mit gleichmäßigen Bewegungen buddelte, faselte der junge Parker, der sich in sicherem Abstand wähnte, etwas von Robotern und Androiden. Der Verdächtige legte irgendwann sein Arbeitsgerät beiseite und ließ sich nieder. Daraufhin wurde es still.
  »Kommen Sie!«, spornte Henderson seinen Schützling an.
  Die zwei Sensationsjäger stahlen sich am Gebüsch vorbei von hinten an das Grab heran. Sie waren dem Mann so nah wie nie zuvor; nur ein paar Schritte trennten sie noch voneinander. Als die Berichterstatter schließlich hervortraten, erblickten sie das Gesicht des Alten im Profil. Just in diesem Moment nahm er etwas in die Hand und biss herzhaft hinein, obwohl es anscheinend ziemlich zäh war.
  Parker geriet in Panik. Er schrie wie irre immer wieder das Wort »Zombie«, und als Henderson ihn am Weglaufen hindern wollte, schlug er wild um sich. Dann riss er sich los, indem er die schwere Kamera mit aller Wucht Henderson gegen die Schulter warf, woraufhin sich der Reporter vor Schmerzen krümmte. Parker rannte inzwischen in Windeseile quer durch den Kirchhof und verwüstete dabei vielleicht ein Dutzend Gräber. Er stieß ein Holzkreuz um und sprang behände über mehrere niedrige Gedenksteine. In seiner Verwirrung fand er das Eingangstor nicht, schwang sich aber geradezu mühelos über die Friedhofsmauer, so dass er auf der anderen Seite zwar hart, jedoch unversehrt landete.
  Henderson kochte indessen vor Wut. Die Schulter tat ihm weh und würde ihn bei einer Flucht ziemlich beeinträchtigen. Gegen diesen Mann, der dort seelenruhig saß und aß, hatte er nun keine Chance mehr. Der Alte strotzte ja nur so vor Kraft!
  Tausend Gedanken schwirrten Henderson durch den Kopf. Parker war wirklich ein toller Gefährte! Der könnte was erleben, wenn er ihn noch einmal zu fassen kriegte! Machte der sich einfach so mir nichts, dir nichts aus dem Staube und überließ ihn seinem Schicksal ...
  Der Mann am Grab drehte bedächtig den Kopf und fragte: »Hat der Bursche Sie arg erwischt?« Seine Stimme klang dunkel, aber freundlich.
  »Das gibt auf jeden Fall ein paar blaue Flecke«, entgegnete Henderson mit einem gequälten Lächeln.
  »Sehr stürmisch, die Jugend von heute!«, meinte darauf der andere. Er kaute lustlos. »Mein Name ist Abraham Scott«, stellte er sich vor.
  »Matt Henderson«, gab der Reporter knapp seinen Namen preis und strich sich nervös mit den Fingern durchs Haar.
  »Nett, Sie kennenzulernen, Mr Henderson. Sie sind wohl nicht von hier?«
  »Nein, ich bin bloß zu Besuch.«
  »Das ist ungewöhnlich«, befand der Alte. »Nach N. kommt nämlich kaum jemand von auswärts.« Er lächelte verschmitzt und biss wiederum kräftig in dieses Etwas, das seine Hände umfassten und verbargen. »Die Einheimischen denken sich übrigens gern Geschichten von Gespenstern und Werwölfen aus. Auch um mich ranken sich viele Legenden.«
  »So?« Henderson tat verwundert. »Was erzählt man denn über Sie?«
  »Ich werde es Ihnen sagen«, versprach Scott. »Zuerst müssen Sie mir allerdings einen vernünftigen Grund nennen, weshalb Sie mitten in der Nacht auf dem Friedhof spazieren gehen.«
  Henderson lächelte verlegen.
  »Sie sind hinter mir her, mein Freund!« Scott hatte es erfasst. »Dem Leichenfresser auf der Spur. Ha! Das haben Sie wohl von Mrs Hall? Oder war es Mrs Dawson? Na, ist ja egal. Die Spukgeschichten, die hier am Ort kursieren, sind wirklich vom Feinsten. Zu dumm, dass mein Magen Leichenfleisch nicht verträgt.« Er öffnete seine Rechte. Die Reste eines Sandwiches lagen darin. »Wissen Sie, Mr Henderson, die Leute in N. sind sehr verschlossen, fragen nie nach und mutmaßen nur. Ich bin bloß ein armer Mann, der froh ist, dass er seit ein paar Wochen endlich wieder einen Job hat. In N. leben nun mal fast ausschließlich alte Leute. Da muss der Totengräber eben ab und zu ein paar Überstunden machen.«


* * *

  Am nächsten Morgen schleppte Henderson die Koffer zum Wagen. Seine Miene verriet die Schmerzen, die ihn nach Parkers brutaler Abwehr plagten. Der Praktikant wartete betreten neben dem Auto und entschuldigte sich tausendmal für sein Verhalten. Henderson sagte kein Wort und stieg ein. Auch Parker nahm Platz. Während der Fahrt hielt Henderson seinem Schützling eine Standpauke, die dieser kommentarlos wegsteckte.
  »Den Leuten in N. geht es genauso wie Ihnen, Parker«, meinte er abschließend. »Sie haben einfach zu viele schlechte Filme gesehen und sich nie gefragt, wer ihre Gräber aushebt. Und sie sind feige so wie Sie. Die hätten diesen Scott ja bloß mal zur Rede stellen brauchen!«
  Bei einem Zwischenstopp telefonierte Matt Henderson mit seinem Boss. Der gab ihm Anweisungen für den nächsten Fall und machte ihm unmissverständlich klar, dass Parker jetzt sein ständiger Partner war.
  »Sie sind nicht sonderlich erfreut, was?« Gallagher ahnte es.
  »Na ja, Mr Gallagher! Der Junge entwickelt sich prächtig«, log Henderson. Aus der Telefonzelle heraus sah er Parker im Auto sitzen und unbekümmert Kekse essen.
  »Umso besser, Henderson!« Gallaghers Stimme klang erleichtert. »Ich dachte schon, Sie steigen mir seinetwegen aufs Dach.«
  »Er hat ein paar dumme Angewohnheiten, doch die treibe ich ihm noch aus. Sie werden sehen, Mr Gallagher«, heuchelte Henderson, »ich mache aus dem Grünschnabel einen echten Profi.«
  »Wenn Sie es sagen! Sie hatten ja immer einen guten Blick für Talente. Also bleiben Sie dran!« Gallagher legte auf.
  Henderson setzte sich in den Wagen. Neben ihm fraß Parker, als sei nichts gewesen. Seine Reue war vollends verflogen und er krümelte ungeniert auf den Beifahrersitz. Die Aussicht, von nun an fortwährend mit diesem grässlichen Kerl zusammenarbeiten zu müssen, hatte Henderson soeben auf eine Idee gebracht ...
  Nicht weit von hier befand sich ein sagenumwobener See, in dessen dunklen Fluten angeblich ein Ungeheuer hauste. Dort hatte Henderson bereits vor Jahren recherchiert, weil ein paar unbedarfte Touristen spurlos verschwunden waren. Obwohl Einheimische die Gegend mieden und einige Schauergeschichten auf Lager hatten, mangelte es ihm an schlüssigen Beweisen, weswegen er den Fall öffentlich für ungelöst erklärt und Spekulationen über die vermutlich bösartige Kreatur ins Reich der Fabel verwiesen hatte. Das Ufer des Schreckens lag fast auf der Strecke zum nächsten Ziel. Folglich könnte er einen Abstecher machen, mit Parker dahin fahren und ihn dann zu einem Bad überreden, oder wenn dies misslingen sollte, den Dummkopf einfach aus dem Auto werfen und ins Wasser stoßen. Hinterher würde er sagen, er habe ihn bei einem Zwischenstopp verloren. So viele Menschen werden jedes Jahr als vermisst gemeldet und manche bleiben ewig verschollen! Was immer dieser See beherbergte, sorgte garantiert dafür, dass Parker ihm nie wieder über den Weg laufen würde.

  In der Ferne blitzt im grellen Sonnenlicht inmitten eines idyllisch gelegenen Wäldchens die glatte Wasseroberfläche des von Geheimnissen umwitterten Sees.
  »Heute ist schönes Wetter«, spricht Henderson den Verhassten an. »Haben Sie Lust, schwimmen zu gehen?«
  »O ja!«, ruft Parker freudestrahlend.

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