Lassen Sie uns heute einen Krankenbesuch machen! Wir gehen gemeinsam in eine am Rand der Stadt gelegene psychiatrische Klinik, wo ein ehemals genialer Maler den Rest seines einst so farbenfrohen Lebens einsam unter lauter Verrückten fristet. Hört man ihm aufmerksam zu, beginnt man zu zweifeln, ob er wirklich wahnsinnig oder vielmehr nur ein bedauernswertes Opfer seiner eigenen Schöpferkraft ist; denn wie Sie sicher wissen, überträgt jeder Künstler stets ein Stück seines Selbst auf seine Werke, was letztendlich ihren Zauber bewirkt. Kommen Sie also mit und seien Sie unbefangen.
Betreten wir den Park der Anstalt! Ist er nicht gemütlich? Auf den gepflegten Wegen stehen weiß getünchte Bänke, es gibt schattige Bäume und leuchtende Blumenrabatten. Allein die Spaziergänger in ihren Morgenmänteln stören das Idyll und die Herren im weißen Kittel, die sie teils streng, teils mitleidig bewachen. Sehen Sie da drüben die riesige Linde? Dort traf ich ihn vor einigen Jahren, als ich hier selbst eine Insassin war. Jeden Mittag sahen wir uns unterm Lindenbaum, spazierten um seinen Stamm herum und genossen den betörenden Duft der Blüten. Dann setzten wir uns auf eine dieser zahllosen weiß gestrichenen Bänke und vertrauten einander all unsere Geheimnisse an. Sonst war da ja niemand, mit dem zu reden sich lohnte, denn alle waren komplett verrückt: die Ärzte, die Pfleger, sämtliches Personal, sogar der Koch, der bloß drei Gerichte zubereiten konnte, die er allerdings, zu seiner Ehrenrettung sei es gesagt, stets im Wechsel auf den Tisch brachte. Auch um die anderen Patienten stand es nicht gut. Wir beide waren in der Tat die einzigen geistig Gesunden in diesem Irrenhaus.
Wo bist du, Louis? Aha, neuerdings hat es dir die knorrige Eiche angetan. Hallo, mein Freund! Wie geht es dir? Hoffe, du hast in dieser jämmerlichen Gesellschaft noch nicht den Verstand verloren. Sieh mal, hier ist jemand, der deine Geschichte hören will. - Kommen Sie näher, mein lieber Leser! Schauen Sie sich diesen Mann an, seine beeindruckende Statur, die kräftigen Arme und die feinen Hände, diese geschickten Hände, die leider nicht mehr so funktionieren wie früher. - Louis, du bist alt geworden. Hast jetzt beinahe etwas Würdevolles. Deine Adlernase ist immer noch bedrohlich, aber deine Zähne sind ziemlich verfault. Kein Wunder bei dem miesen Fraß, den sie dir tagtäglich vorsetzen. Du bist blass. Warum sitzt du auch ständig im Schatten! Seit ich hier raus bin, kümmert sich keiner mehr um dein Wohlergehen. - Nun, mein Leser, haben Sie keine Scheu! Sehen Sie Louis in die Augen, blicken Sie in jene tiefschwarzen Augen und dann sagen Sie mir: Kann dieser Mann lügen, kann er wahnsinnig sein? Nein, ganz gewiss nicht! Hören Sie nur aufmerksam zu. - Los, Louis, erzähl meinem Leser die Geschichte von der Welt, die du selbst gemalt hast! (Louis öffnet die Augen, richtet sich auf und seine Hände regen sich. Er räuspert sich. Dann will er beginnen, doch seine Stimme versagt und er hüstelt bloß vor sich hin.) Na, bist anscheinend ein bisschen erkältet! Das Wetter war in den letzten Wochen aber auch grässlich. Wenn du einverstanden bist, berichte ich stellvertretend für dich. Und wenn ich irgendwas durcheinanderbringe, hebst du einfach mahnend den Finger, so dass ich innehalten und noch mal überlegen kann. Abgemacht? Abgemacht!
Louis war Kunstmaler und meines Erachtens einer der besten, die es je gegeben hat. (Das sagte sogar der einzige Kritiker, der sich eingehend mit seinem Werk befasst hatte.) Alles, was Louis schuf, schien plastisch und beweglich. Wenn man seine Gemälde betrachtete, tauchte man darin ein. Seine Bilder hingen nicht nur an der Wand - sie lebten und sie öffneten die Pforte zu einer anderen Welt. Beim flüchtigen Hinsehen zeigten sie nichts Besonderes. Da waren Landschaften und seltsam anmutende Leute, die eigenartigen Gesellschaftsspielen nachgingen, miteinander redeten oder sich zu Festen trafen und meistens eine sonderbare blaue Flüssigkeit tranken. Diese Szenen wiederholten sich ständig. Man sah stets dieselben grünen Hügel, saftige Wiesen mit bunten Tupfen, in silbrig glänzende Gewänder gehüllte Personen, die einen vieleckigen Ball durch die Gegend rollten oder es zumindest versuchten, eine Frau mit langem blauem Haar, die jenen Tee servierte, und vor seiner Staffelei einen Maler, der eine gewöhnliche Jeans und einen weißen, mit Farbklecksen verschmutzten Kittel trug, die Palette in der linken, den Pinsel in der rechten Hand hielt und an einem Bild arbeitete, das genau das darstellte, was er gerade erlebte.
Fragen Sie mich nicht, mein aufmerksamer Leser, wie viele Werke dieser Art Louis anfertigte. Ich kann nur sagen, er malte immerzu und nie etwas anderes als weitere Szenen aus demselben Zyklus. Die meisten Leute fanden seine Bilder langweilig. Kaum einen Blick verschwendeten sie daran und gähnend liefen sie vorbei. Doch glauben Sie mir! Man hat Louis unrecht getan. Was er schuf, war lebendig. Wenn ich seinen Gemälden den Rücken zukehrte, dann hörte ich die Figuren tuscheln und kichern, und ich vernahm jenes knackende Geräusch, das der riesige eckige Ball beim Rollen von sich gab. Manchmal sah ich, wie sich Schatten bewegten, wie Wolken über die Leinwand zogen, wie das Gras sich im Wind wiegte, wie Regentropfen glitzernd herabfielen, wie der Pinsel des Malers das innere Bild vervollkommnete. Und ich roch die frische Farbe! Ich vermag nicht zu sagen, warum die anderen Louis' Werken nichts abgewinnen konnten. Wahrscheinlich waren sie einfach zu oberflächlich. Die wollten Kenner sein - dass ich nicht lache!
Eines Tages, es war an einem nebligen Novembermorgen, als ich mich wieder einmal in der Betrachtung eines Gemäldes erging, hatte ich den Eindruck, dass der Maler auf der Wiese sich langsam, ja kaum merklich zu mir umdrehte. Ich erschrak ein wenig, denn bisher hatte ich noch nie beobachtet, dass eine der Figuren sich regt. Wie gebannt starrte ich auf den Kopf des Künstlers. Mein Herz schlug wild. Ich kannte diesen Mann: Es war Louis! Plötzlich wandte er sich ruckartig um und streckte flehend den Arm nach mir aus. Seine Hand ragte aus dem Bild, das nun eine nach außen gewölbte Oberfläche hatte, weit heraus. Unwillkürlich ergriff ich seine mit Farbe verschmutzte Rechte. Und ehe ich mich's versah - es war wirklich, wie wenn man einen Schalter umlegt -, war ich er und er war ich!
Da stand ich nun inmitten jener sonderbaren Gesellschaft und wusste nicht, wie mir geschah. Ich befand mich zwar noch in meinem eigenen Körper, aber ich trug den weißen Kittel meines Freundes und hatte Palette und Pinsel in der Hand. Die anderen schienen die äußerliche Veränderung nicht zu bemerken und hielten mich offenbar für Louis.
»Spielen Sie doch eine Runde Würfelballmurmeln mit uns!«, forderte mich ein blonder Jüngling im silbernen Anzug zum Mitmachen auf.
»Ich glaube, ich mag diesen Sport nicht«, wich ich aus.
»Dann trinken Sie eine Tasse Tee!«, bot mir die Frau mit dem langen blauen Haar an. Ihre Augen verbreiteten ein gleißendes, blauweißes Licht und ihre Haut schimmerte azurn. Sie reichte mir eine gläserne Tasse, die die Form eines Würfels hatte. - Die Tasse war leer.
»Wo ist der Tee?«, fragte ich erstaunt.
Da legte sie ihre Hand auf das Gefäß, woraufhin sich aus ihren Fingerkuppen eine bläuliche Flüssigkeit ergoss.
Angewidert ließ ich die Tasse fallen und rief entsetzt: »Soll ich vielleicht Ihr Blut trinken? Und mich am Ende auch noch blau färben?«
»Das ist kein Blut - es ist mein Saft! Ich bin doch kein Mensch, sondern nur eine Pflanze in humanoider Gestalt.« Ihre Stimme hatte einen süßen, verlockenden Klang.
»Sie sind eine seltsame Blume!«, widersprach ich lautstark.
»Der Würfelball will nicht rollen!«, jammerte indessen der blonde Junge. »Louis, tun Sie mir den Gefallen und malen Sie den Hügel etwas steiler.«
»Ich kann nicht malen!«, beteuerte ich aufrichtig. Freilich wollte mir das unter diesen Umständen niemand glauben.
»Sie haben's schon so oft getan, warum nicht noch mal?«, bat der Hübsche. Ich habe aber nicht das geringste Talent zum Zeichnen; daher blieb sein Wunsch unerfüllt.
»Früher, als unser Land so herrlich flach war, gab es all die dummen Spiele nicht!«, schimpfte ein älterer, ergrauter Herr, der sich bewusst abseitshielt und bei dem Treiben missbilligend zusah. »Das ist alles Ihre Schuld!«, fuhr er mich an. »Sie haben die Hügel in die Welt gesetzt, den Wettkampf und das Murmeln.«
»Ich?«, rief ich fassungslos.
»Natürlich Sie! Wer denn sonst?! Sie verändern ja ständig die Dinge mit Ihren unseligen Bildern. Verflucht sei derjenige, der Ihnen das Malen beigebracht hat!« Darauf entfernte er sich wutschnaubend.
Ich wandte mich an die Frau, die meinte, eine Pflanze zu sein: »Ist es wahr, dass Louis' - äh - dass diese Bilder die Welt neu erschaffen?«
»Ja freilich! Und es richtet großen Schaden an. Deshalb sollten Sie den Tee trinken. Dann ist es vorbei.« Ihre Antwort war freundlich vorgetragen, die Worte aber ließen nichts Gutes ahnen.
»Wollen Sie mich etwa vergiften?« Ich war gleichermaßen verängstigt wie erbost. Da hatte Louis mir ja was eingebrockt!
»Es ist kein Gift. Es wird Sie nicht töten, sondern nur Ihre Kreativität lähmen«, versuchte sie mich zu beruhigen.
Hilflos sah ich mich um. Wo war Louis' rettende Hand? Er befand sich bestimmt in der Galerie und beobachtete mich. Wenn ich jetzt einfach den Arm ausstreckte - ob er ihn ergreifen und mich aus dieser misslichen Lage befreien konnte?
»Ich bin nicht Louis. Ich bin seine beste Freundin Louise«, erklärte ich der sprechenden Pflanze. »Wir haben bloß den Standort getauscht.«
»Das ist unmöglich«, erwiderte kopfschüttelnd die Dame in Blau. »Die Malerei treibt Sie noch in den Wahnsinn. Trinken Sie den Tee!«, forderte sie unnachgiebig.
»Dies hier ist nicht real. Sie sind gar nicht wirklich!«, schrie ich entsetzt. Alle sahen mich mit großen Augen an und maßen mich mit verwunderten Blicken.
»Wie können Sie so etwas Unlogisches behaupten?«, fragte einer der Anwesenden gereizt.
»Sie sind nur Figuren auf einem Gemälde, das in einer Ausstellung für moderne Kunst hängt!«, schallte meine Stimme durch die abstrakte Szenerie. »Louis hat Ihre Welt nicht bloß verändert - er hat sie erst erschaffen«, klärte ich die Unwissenden auf. »Ohne ihn gäbe es Sie gar nicht.«
»Aber Sie sind doch Louis!«, lachte der blonde Spieler erheitert. »Warum sprechen Sie von sich selbst wie von einer anderen Person?«
Ich war verzweifelt und den Tränen nahe.
»Louis, ich glaube, Sie haben den Verstand verloren!«, bedauerte die greise Frau, die beim Würfelballmurmeln den Posten eines Schiedsrichters innehatte. »Ihre Bilder sind gut; deshalb haben sie einen Ehrenplatz in unserem Stadtmuseum. Wenn Sie jedoch denken, Sie hätten Ihren Werken ein Eigenleben verliehen, dann sind Sie geisteskrank und gehören in Therapie.«
Hoffnung keimte in mir auf. Wenn die Gemälde in unserer Welt ein Tor zu der ihrigen waren, konnten die Gemälde in ihrer Welt auch ein Tor zu der unseren sein.
»Bringen Sie mich in dieses Museum!«, bat ich daher eindringlich.
Darauf sagte die blaue Dame: »Trinken Sie den Tee und es wird geschehen.«
Blieb mir eine Wahl? Nein, ich hatte keine. Ich durfte dort nicht verweilen, denn es bestand die Gefahr, dass man die Wahrheit über mich erfahren würde. Wenn ich den Rückweg finden wollte, musste ich aber unbedingt in dieses Museum. Also nahm ich die würfelförmige Tasse in die Hand und setzte sie vorsichtig an meinen Mund. Schon stieg ein bläulich grauer Rauch aus dem Gefäß auf, kroch in meine Nase und betäubte sie.
»Jetzt ist alles egal!«, schoss es mir durch den Kopf. Ich benetzte meine Lippen mit dem blauen Saft. Die sprechende Pflanze warf mir wohlwollende Blicke zu. So trank ich den Tee bis auf den letzten Tropfen. Er schmeckte seltsam würzig, süß und unbeschreiblich. Als ich fertig war, verlangte ich mehr, doch die florale Dame meinte, das könne ich in meinem Alter und in dieser körperlichen Verfassung nicht vertragen.
Dann packten mich zwei ältere Herren an den Armen und schleppten mich fort. Der Weg war gar nicht weit. Gleich hinter den Hügeln ragte ein sichelförmiges Gebäude in die Höhe, das dunkelgelb bis mattorange im Schein der roten Abendsonne schimmerte. Es beherbergte das bereits erwähnte Museum, welches einen ungepflegten und trostlosen Eindruck machte. Die düsteren Gänge und die kahlen Wände zeugten davon, dass die Bewohner jener Welt nicht viel von Kunst hielten. Meine Begleiter zerrten mich dementsprechend unsanft durch die langen, leeren Korridore und ließen mich erst los, als wir die Gemälde erreicht hatten, die angeblich von mir stammten.
»Wo sind denn die Bilder der anderen Maler?«, begehrte ich zu wissen.
»Andere Maler?«, fragten die Männer.
»Sie sind der einzige auf der Welt«, ergriff einer der ehrwürdigen Herren das Wort. »Und es ist ein Segen, dass es nicht noch mehr Leute Ihres Schlages gibt, die pausenlos irgendetwas an der Landschaft oder unserem Aussehen verändern wollen. Es ist schon schwer genug, ständig Ihre Launen ertragen zu müssen. Wo kämen wir da hin, wenn wir zwei oder gar drei Maler hätten!«
»Treten Sie näher und betrachten Sie Ihre Werke!«, befahl nun die Schiedsrichterin.
Ich tat es und erstarrte, denn auf den Gemälden sah ich Ausstellungsräume einer Galerie mit darin wandelnden Besuchern - und einer von ihnen war Louis! Sie zeigten die mir vertraute Welt, doch die anderen behaupteten, es seien bloß leblose Bilder. Von da an dachte ich nur an eines: Ich musste hier weg.
Angestrengt heftete ich meinen Blick auf eine der dargestellten Szenen, aber sie war statisch. Ich weiß nicht, wie lange ich darauf stierte. Irgendwann fühlte ich schließlich meine Beine ermatten und knickte in den Knien ein. Sonderbarerweise machte es mir jedoch keine Mühe, meine Augen offen zu halten.
Im Hintergrund hörte ich leise Stimmen. Sie murmelten: »Der Tee tut seine Wirkung. Bald ist es geschafft.«
Plötzlich kam Bewegung in das Gemälde. Ein Mann darauf - es war Louis - schubste einen Doppelgänger beiseite und streckte den Arm nach mir aus. Mit letzter Kraft schleppte ich mich zu ihm hin. Ich spürte, wie er mich am Handgelenk packte. In diesem Moment schloss ich die Lider, ich roch wieder das Aroma des blauen Tees und hatte das Gefühl, nach hinten zu kippen.
Als ich die Augen aufschlug, beugte sich Louis über mich, tätschelte meine Wangen und weinte bittere Tränen. »Es tut mir leid!«, sprudelte er hervor. »Das habe ich alles nicht gewollt.«
»Wer ist er?«, blubberte ich mit halb gelähmter Zunge und hob langsam meinen Zeigefinger. Im Zeitlupentempo deutete ich auf einen Mann, der genauso aussah wie Louis und lauernd an der gegenüberliegenden Wand lehnte, einen Ausdruck von Bösartigkeit und tiefster Enttäuschung in seinem Gesicht.
»Er hat wie ich die Kraft, Bildern Leben einzuhauchen«, erklärte Louis. »Eigentlich ist er mein Alter Ego - die Person, die ich geschaffen habe. Doch fragst du ihn, behauptet er, es sei umgekehrt! Er hat mich in seine Welt eingeladen, um mich auszutricksen. Als er mir die Hand reichte, tauschten wir die Plätze. Das Gleiche ist passiert, als ich dich um Hilfe bat. Es tut mir unendlich leid.«
»Warum ist es diesmal nicht geschehen? Warum sind wir beide auf der heimatlichen Seite?«, wollte ich wissen.
»Der Tee!«, fauchte der Mann an der Wand. »Du Idiotin hast von dem blauen Tee getrunken, dem Gift, das alle Zauber wirkungslos macht und dich alle Träume vergessen lässt.«
Er war außer sich vor Wut - das bereitete mir Angst. Etwas war schiefgelaufen für ihn, und ich müsste lügen, wenn ich sagen wollte, dass ich es bedauerte.
»Sie haben mich genötigt, ihn zu trinken. Sie hassen Künstler. Sie wollten mich los sein.« Mir fiel das Reden immer noch schwer.
»Ich will sie auch los sein!«, erwiderte er verärgert. »So einfach ist es aber nicht. Wenn bei meinen Leuten niemand mehr Szenen aus eurer Welt malt, werden beide Seiten voneinander getrennt. Was wird dann aus mir?«
»Du bleibst dort, wo du hingehörst!«, schrie Louis. Ich hatte ihn nie vorher so ausrasten sehen.
»Nein, du wirst für mich zurückgehen!«, bestimmte der Fremde und zeigte mit dem Finger auf Louis. »Wir sind eine Person. Du bist ich und ich bin du. Niemand wird einen Unterschied bemerken.«
Mit diesen Worten griff er Louis an und es entstand ein Handgemenge. Ich konnte meinem Freund jedoch nicht helfen, denn es war unmöglich, die beiden auseinanderzuhalten. So zog ich stattdessen ein scharfes Messer aus meinem Kittel und machte mich daran, die Gemälde allesamt zu zerstören. Als der Sicherheitsdienst eintraf, hingen die zerschlitzten Bilder traurig an der Wand wie alte Lappen. Der Doppelgänger lag bewusstlos am Boden und starb wenig später. Und Louis war sauer auf mich und hat seither kein Wort mehr mit mir gesprochen. Ich glaube, er täuscht auch heute seine Heiserkeit nur vor.
Nicht wahr, Louis? Du tust bloß so, als ob du erkältet wärst. In Wirklichkeit trägst du es mir noch nach. Warum kannst du mir nicht verzeihen? Was ich tat, war schließlich richtig. Was hätte ich denn sonst tun sollen?
Nun, mein lieber Leser, haben Sie alles erfahren. Vielleicht wäre die Geschichte spannender gewesen, wenn Louis sie selbst erzählt hätte. Aber wenn er nun mal nicht mit mir und meinen Freunden reden will! Der sture, greise Mann wird eben immer sonderbarer mit den Jahren. - O weh, da kommen die Herren in ihren weißen Kitteln! Pfleger nennen sie sich und wollen dich doch bloß quälen.
»Louise, es ist schon spät. Zeit, hineinzugehen und zu Abend zu essen«, spricht einer von ihnen mich an.
»Pech gehabt! Ich bin nur zu Besuch. Wollte mal sehen, wie's um meinen alten Louis steht.«
»Sie sind eine Patientin. Haben Sie das vergessen?«
»Es ist lange her, dass ich hier in Behandlung war.«
»Sie wurden doch nie entlassen, Louise!«, protestiert eine Schwester mit kaltem Lächeln.
»Ich habe eine Wohnung am anderen Ende der Stadt und arbeite als Schriftstellerin. Fragen Sie meinen Leser! Er ist mit mir hergekommen.«
»Heute ist gar kein Besuchstag, Louise. Übrigens sind Sie Malerin und nicht Autorin. Sie verwechseln das schon wieder.«
»Ich und Malerin? Dass ich nicht lache! Ich kann ja nicht mal ein Haus mit Garten zeichnen. Louis ist Maler!«
»Es gibt keinen Louis. Er ist eine imaginäre Person. Sie haben ihn erfunden.«
»Welch ein Unsinn! Ich erfinde Leute bloß für meine Romane.«
»Was sind das für Romane, Louise? Sie haben jedenfalls keinen einzigen geschrieben in all der Zeit, die Sie bei uns verbracht haben.«
»Eins zu null für Sie! Aber wo sollen denn meine Bilder sein?«
»Die haben Sie vor Jahren selbst in einer Galerie zerschnitten. Wissen Sie das nicht mehr?«
»Es waren Louis' Bilder! Wie oft soll ich es noch sagen! Fragen Sie doch meinen Leser, der mit mir hierhergekommen ist!«
»Ihren Leser?« Die Schwester setzt eine verdrießliche Miene auf. »Sie waren den ganzen Nachmittag allein. Es war niemand bei Ihnen - weder dieser Louis, den es niemals gab, noch sonst jemand.«
»Ich bin erst vor drei Stunden eingetroffen. Das können Sie mir glauben. Durch die ganze Stadt bin ich gefahren, um Louis zu besuchen.«
»Sie sind mit der Bahn gefahren, Louise? Im Morgenmantel?«
»Das ist kein Morgenmantel! Das ist die neueste Mode aus Paris!«
»Sie waren nicht in Paris. Sie haben nur gestern Abend einen französischen Film gesehen. Kommen Sie, es wird kühl und das Essen steht für Sie bereit samt Ihrer Medizin. Ich wette, Sie haben in den letzten Tagen Ihre Pillen nicht geschluckt.«
»Nein! Nicht anfassen!«, schreie ich und setze mich heftig zur Wehr, aber gegen vier von ihnen und ihre Spritzen bin ich machtlos. Sie zerren mich in die Anstalt und lassen mich bestimmt so bald nicht wieder raus.
Also machen Sie's gut, mein Leser! Nehmen Sie sich vor denen bloß in Acht! Suchen Sie auf dem schnellsten Wege das Weite, sonst gelangen Sie auch in die Obhut dieser Wahnsinnigen. Ich sag's ja: Außer Louis und mir sind hier alle total verrückt. Da sehen Sie mal, was ich durchmache. - Bin gespannt, welches von den drei Gerichten jetzt auf dem Speiseplan steht. Und ich soll Maler sein? Haha! Und Louis ist imaginär? Da vorn sitzt er doch auf seiner Bank! Fehlt nur noch, dass sie behaupten, es gebe keinen blauen Tee und keine eckigen Bälle und man könne gar nicht durch Bilder gehen!
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