Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band III
Sieben Gruselgeschichten & zwei Gedichte       ©  2007  Heike Hilpert, Selbstverlag

    Titel
    Vorwort
    Inhalt
    Im Pappkarton
    Der Herr der Pillen
    Requiem
    Weihnachts(schauer)märchen
    Gespräch mit einer Tapete
    Vorsicht! Bissige Nachbarn!
    Bilderwelten
    Einsamer Wanderer im All
    Unsterbliche Rose
    Information zur Autorin
    Literaturhinweis
    Impressum

Gespräch mit einer Tapete

  Sicher lagen auch Sie, mein hochverehrter Leser, schon einmal durch Fieber geschwächt danieder. Wenn jede Bewegung des kranken Körpers einen merkwürdigen Taumel verursacht, hütet man das warme Bett, in Regungslosigkeit verharrend, zwischen den weichen Federn beinahe wie auf Wolken schwebend. Das Gehirn spürt nichts vom Kampf des Immunsystems; es funktioniert nur etwas langsamer als sonst. Der zum Nichtstun verdammte Geist will aber nicht ruhen. Daher driften die Gedanken in verstörende Träumereien ab und tauchen ein in bizarre Welten, die gänzlich verschieden sind von der alltäglichen. Wirklichkeit und Phantasie fließen ineinander und verwirren den Verstand, der mühsam zwischen beiden zu vermitteln sucht.

  Ein rätselhaftes Fieber fesselte Lucy Bradshaw seit drei Wochen ans Bett. Ganz plötzlich war es aufgetreten - ohne ersichtlichen Grund. Hartnäckig verblieb es und wollte trotz Behandlung mit modernster Medizin nicht abklingen. Die Ärzte machten den Prüfungsstress dafür verantwortlich, doch Lucy hatte ihr Studium mit Leichtigkeit absolviert. Es hatte während all der vorangegangenen Semester nicht den geringsten Anlass zur Besorgnis gegeben, und kein Mensch war auf den abwegigen Gedanken gekommen, dass sie, die blitzgescheite, mustergültige Studentin, jemals mit irgendeiner geistigen Betätigung überlastet sein könne. So harrten Lucys Eltern ratlos am Krankenlager ihrer Tochter aus und fragten händeringend nach dem Warum, während die überforderten Mediziner den Fall als mittelschwer einstuften und offensichtlich auf die Selbstheilungskräfte der Patientin vertrauten. Die Bradshaws durften Lucy irgendwann aus der Klinik holen und mit nach Hause nehmen, was wohl bedeutete, dass man ihren Zustand für hoffnungslos hielt. Das seltsame Fieber, das weder steigen noch fallen wollte, nicht lebensbedrohend, aber genauso wenig der Genesung zuträglich war, hatte die Ärzteschaft schließlich an ihre Grenzen stoßen lassen.
  In ihrem Zimmer im Hause der Eltern fristete Lucy fortan die langen Tage, die sich so zäh auszudehnen schienen, als ob in der Zwischenzeit andernorts Äonen vergingen. Fast reglos lag die junge Frau in ihrem Bett, bis zum Hals zugedeckt. Ihr Haupt lugte wie abgetrennt hervor. Die stumpfen blonden Locken reckten sich aus der tiefen Kuhle, die der erhitzte Kopf in das Kissen gegraben hatte, so als bäumten sie allein sich mit wilder Entschlossenheit gegen den unabwendbaren Untergang auf. Die wachsbleiche Stirn und die von dem Fieber und der andauernden Schwäche hohlen Wangen ließen Lucy derart leidend aussehen, wie wenn Freund Hein bereits seinen knochigen Finger an ihre Schläfe gelegt hätte. Ihre Gesichtsfarbe war außerordentlich blass, ebenso die trockenen, graurosa und schmal gewordenen Lippen. Ihre Nase, eigentlich von durchschnittlicher Größe und Gestalt, ragte jetzt mächtig hervor; die Knorpel hoben sich deutlich ab und die Nasenlöcher klafften wie Abgründe. Lucys Zähne hatten den Glanz verloren, ihre Zunge bewegte sich nur langsam. Die geschwollenen Lider klappten träge auf und zu wie alte Rollläden, wobei sie müde Augen bloß legten, deren verwaschenes Blau noch unbestimmbarer war als früher, und die dichten Wimpern, die jene schweren Lider säumten, warfen einen schwärzlichen Schatten auf die dunklen Augenränder, was das Bild des Siechtums abrundete.
  Lucys Eltern nahmen die ungünstige Entwicklung mit Sorge wahr. Die Angst um das Wohlergehen ihrer einzigen Tochter war in der Tat berechtigt, denn es wollte einfach keine Besserung eintreten und der weitere Verlauf der unerklärlichen Erkrankung war völlig ungewiss. So blieb Mrs Bradshaw Nacht für Nacht wach, strickte und häkelte sich die Finger wund, und zwischendurch weinte sie bittere Tränen. Ihr Haar wurde zusehends grauer und tiefe Falten gruben sich in ihre hohe Stirn. Auch Mr Bradshaw grämte sich mehr und mehr. Sein Gang wurde schleppend, seine Haltung krumm, und das Feuer schwand aus seinen dunkelbraunen Augen. Die frommen Eltern beteten zu Gott und den himmlischen Heerscharen und wurden nicht müde, einen Arzt nach dem anderen ins Haus zu holen. Doch das tückische Fieber trotzte jeder Behandlung und bedrohte Lucy wie ein lauernder Schatten.


* * *

  Seit einer Woche fand Lucy keinen tiefen Schlaf mehr und schlummerte nur noch unruhig. Es schienen die Nächte immer länger zu werden, denn bei Tage döste sie ständig vor sich hin - mal eine halbe Stunde, mal eine ganze. Dazwischen dehnte sich die Zeit gehässig aus. Die Eintönigkeit des trüben Novemberwetters, die durch Langeweile und Bedeutungslosigkeit geprägten Abschnitte der von Schwächeanfällen und Kurzschlaf zerhackten Tage und das fortwährende Gefühl, kostbare Zeit zu verschwenden, quälten sie seelisch ebenso wie körperlich. Auch der sich regelmäßig wiederholende Blick auf die Wanduhr hob ihre ohnehin trübselige Stimmung keineswegs. Die Zeiger krochen so arg träge - es war fast ein Wunder, dass sie sich überhaupt bewegten. Kaum merklich schleppten sich die Stunden dahin. Allein die wechselnden Lichtverhältnisse im Raum waren ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Zeit verrann.
  Lucy war immer gerne allein gewesen; daher hielt man es für das Beste, sie in Ruhe zu lassen. Meist ist Stille der Genesung ja sogar recht förderlich, bei ihr aber bewirkte sie eher das Gegenteil. Zu viele Tage hatte sie bereits einsam im Krankenbett verbracht. Sie sehnte sich nach jemandem, der ihr Gesellschaft leistete und mit ihr redete, doch seit die Eltern sich auf Lucys eigene Bitte hin zurückgezogen hatten, war nur noch selten ein Besucher bei ihr. Warum hatte sie bloß Vater und Mutter und all die anderen aus ihrem Zimmer verbannt? Mittlerweile wusste sie es selbst nicht mehr genau. Manchmal waren einfach zu viele Gäste auf einmal gekommen; manchmal war ihr schon einer von ihnen lästig gewesen. Vielleicht war es aber auch ihr überbordender Stolz, der sie zu jener törichten Bitte veranlasst hatte. Nein, sie wollte ganz sicher nicht, dass man sie so sah - ein Schatten ihrer selbst, die Stimme weinerlich und brüchig, zu tiefschürfender Konversation unfähig, schlapp und geistig matt, voller Traurigkeit und sich anbahnender Resignation.
  Heute plagte sie zudem ein bohrender Kopfschmerz. Ihre Stirn war heiß und das Blut pochte in den Schläfen. Außerdem rauschte es leise in ihren Ohren. Rührte das vom Fieber her oder kam ein Geräusch von draußen herein und wurde nur durch die Fenster etwas gedämpft? Es schien sich dabei um ein Murmeln zu handeln, ein Gemisch aus Stimmen und Tönen, aus dem Lucy, als es lauter und konkreter wurde, einige Wörter herauszuhören glaubte. Da sprach jemand von »Luft« und »Gefahr«, von »Erde«, »fliegen« und »Tod«. Das Kauderwelsch, das so düsteren Inhalts war, machte ihr irgendwie Angst. Es verursachte ein Unbehagen und entfachte zugleich eine brennende Neugier, weshalb es ihr auch nicht gelang, die seltsam anmutenden Fetzen des Gesprächs einfach zu ignorieren. Doch woher kamen diese Stimmen? Schwatzten unten auf der Straße ein paar alte Leute angeregt und ohne Unterlass vom Treiben ihrer Bekannten und vom Schicksal ihrer Nachbarn? Aber die Wörter, die sie vernahm, klangen so hell und klar, fast flüsternd und dennoch ganz deutlich! Es war schier unmöglich, dass sie von draußen hereindrangen. Um sich zu vergewissern, entschied Lucy kurzerhand, gemächlich aufzustehen und aus dem Fenster zu schauen.
  Langsam zog sie die Bettdecke zurück. Als sie sich auf die linke Seite drehte, wurde sie von einem starken Schwindelgefühl erfasst. Kaum ließ es wieder nach, brachte sie sich mit ihren schwachen Armen in die Sitzposition, wobei sie erneut ein Taumel überkam. Sie starrte auf ihre zitternden Knie. Würden diese Beine sie überhaupt noch tragen? Lucy holte tief Luft und fuhr mit einem Ruck auf.
  Wacklig stand sie nun auf ihren nackten Füßen und mit äußerster Anstrengung ging sie unsicher Schritt für Schritt zum Fenster. Sie drohte zusammenzusinken, doch sie quälte sich tapfer vorwärts. Schließlich erreichte sie mit Müh und Not das Ziel, und es war eine Erleichterung, sich wenigstens auf das Fensterbrett stützen zu können. Sie öffnete den rechten Flügel und lehnte sich erwartungsvoll nach vorn, aber der Gehweg war menschenleer, und außer einem Trupp von Arbeitern, der sich in der Ferne an einer Baustelle zu schaffen machte, war weit und breit niemand zu sehen, obgleich noch immer das klar vernehmliche Gemurmel von irgendwoher schallte.
  Enttäuscht blickte sie hinunter auf die Straße. Ein grauweißer Dunstschleier verlieh den Häusern gegenüber ein phantastisches, beinahe gespenstisches Aussehen. Die verzierten Giebel wirkten unheimlich und finster, die Dächer glänzten feucht und die Ornamente an den Friesen und Gesimsen der Fassaden waren rissig und alles andere als schmückend. Die nasskalte Luft legte sich Lucy schwer auf die Brust. So schloss sie das Fenster und tappte zurück zu ihrem Bett. Durch den unnützen körperlichen Einsatz ihrer letzten Kräfte beraubt, schlief sie auf der Stelle ein.


* * *

  Als Lucy erwachte, war der Tag weit fortgeschritten. Das matte Licht, das die herannahende Dämmerung ankündigte, verriet, dass inzwischen viele Stunden verflossen waren. Lucy hatte lange geschlafen, sich dabei aber keineswegs erholt. Wie Blei lagen ihre Hände auf den weißen Laken. Ihr brummte der Schädel. Müde schaute sie umher und prüfte aus reiner Gewohnheit, doch bar wirklichen Interesses jeden erdenklichen Winkel des quadratischen Raumes. Mit einem Blick streifte sie die Schränke, die Couch und den Schreibtisch, den Teppich, die Lampe und die Gardinen. Alles war unverändert. Woher also kamen jene Stimmen, die sie dermaßen belästigten und beunruhigten? Die Straße konnte man als Herkunftsort getrost ausschließen; hier im Zimmer befand sich aber nichts, was dazu geeignet war, Töne zu erzeugen. Waren die unheildrohenden Worte eine akustische Sinnestäuschung?
  Lucy starrte die dem Bett gegenüberliegende Wand an und stutzte. Warum bloß hatte sie in all den Jahren nicht bemerkt, was es mit der dort angeklebten Tapete auf sich hatte? Ihre offensichtliche Unfähigkeit, aus den sie umgebenden Dingen das Wesentliche herauszufiltern, verwunderte und entsetzte sie fast noch mehr als das, was sie da sah. Hatte sie das eigenartige Muster denn gar so oberflächlich betrachtet? Die grau-weißen Konturen und Schattierungen auf der Wandverkleidung bildeten Linien, Kreise und Wellen. Alle meinten, dies sei einfach eine florale Verzierung. Doch mittendrin entstand wie aus dem Nichts das Profil eines greisen Mannes mit fliehender Stirn, eindrucksvoller Hakennase, geschwungenen Lippen, kleinem rundem Kinn, verkrüppelten Ohren, die wie Schnecken wirkten, und wirrem, gelocktem Haar. Lucy sah seinen Mundwinkel zucken und vernahm wieder klar einige furchteinflößende Wörter! Neben dem betagten Herrn tauchte alsbald eine weitere, ähnlich groteske Person weiblichen Geschlechts auf. Ihre winzigen schwarzen Augen stachen hervor, die Wangen waren breit und verformt, und die Nase der bizarren Figur saß schräg und etwas seitlich versetzt in dem sonderbaren Gesicht. Ihr Haupt war von Wellenlinien gekrönt, was an Illustrationen der Medusa erinnerte. Rechts von ihr wurde der Kopf eines Jünglings sichtbar; allerdings fehlte dem perfekt proportionierten Profil die Stirn. Schließlich kam der Umriss eines riesigen Hundes mit nur einem einzigen ausgefransten Schlappohr zum Vorschein. Nach und nach versammelten sich unzählige jener zweidimensionalen Wesen auf der Tapete. Oben unter der weiß gestrichenen Zimmerdecke schwebte ein krummer Turm mit schiefem Fundament und einer völlig verschwundenen mittleren Etage, und ein paar wundersame Blüten zierten die unwirkliche Landschaft.
  Diese eigenartige Welt, die sich quasi auf der Wandverkleidung manifestierte, nahm Lucy gefangen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, Zeuge eines einmaligen und unermesslich wichtigen Ereignisses zu sein. Sie durfte teilhaben an der Erweckung einer unbekannten Gesellschaft, die sich bisher vor aller Augen hinter jenem Muster verborgen hatte, und sie zweifelte nicht daran, dass auf sämtlichen Tapeten der Welt geheime Gemeinschaften ein verstecktes Dasein führten.
  Plötzlich verstummte das allgemeine Geschnatter und der greise Mann in der Mitte ergriff beherzt das Wort.
  »Sie da in Ihrem Bett! Hallo, Sie! Ja, ich meine Sie, Miss!«, rief er unwirsch und deutete mit seiner Hakennase auf Lucy, die darob sehr erschrak und zaghaft den Finger auf sich selbst richtete. »Meinen Sie etwa mich?«, vergewisserte sie sich.
  »Natürlich meine ich Sie, mein Kind!«, ereiferte sich der Alte ungehalten. »Sehen Sie hier vielleicht noch jemand Körperlichen?«
  »Körperlich?«, fragte Lucy zögernd. Sie konnte mit jenem Begriff wenig anfangen.
  »Sie sind der einzige Körper in diesem Raum«, erklärte der Wortführer nun versöhnlich. »Wir sind ja nur Flächen - platte Wesen ohne Tiefe, ihrer dritten Dimension beraubt.«
  »Man hat Ihnen die dritte Dimension gestohlen?« Lucy meinte im Klang seiner Stimme einen Ausdruck von Wehmut und tiefer Traurigkeit zu erkennen. »Wie konnte das geschehen? Wer hat es getan?«, hakte sie ungläubig nach.
  »Oh, das ist eine lange Geschichte, Miss«, sagte der flache Mann niedergeschlagen, »und niemand will sie wirklich hören.«
  »Ich möchte erfahren, was mit Ihnen passiert ist«, widersprach Lucy. Den Vorwurf, desinteressiert zu sein, wollte sie ganz gewiss nicht auf sich sitzen lassen.
  »Überall auf der Welt harren wir geduldig in Mustern aus«, fuhr der Greis fort. »Wir lauern aufmerksam auf Stoffen, Bodenbelägen und Tapeten. Stets warten wir darauf, mit jemandem in Kontakt treten zu können, der uns Glauben schenkt und Anteil nimmt an unserem schweren Schicksal. Wenn wir aber schon mal einen fanden, der uns beachtete, und wenn dieser später anderen Körperlichen von unserer Existenz berichtete, dann brachte man ihn fort und sperrte ihn in ein weiß getünchtes Zimmer, wo unsere Anwesenheit unverzüglich entdeckt worden wäre.«
  »Nun, Sir«, unterbrach Lucy den bedrückten Mann, »sagten Sie nicht gerade, dass Sie sich sehnlichst wünschen, dass man Notiz von Ihnen nimmt?«
  »Oh ja, das tun wir!«, versicherte er. »Doch früher endeten die meisten Begegnungen mit Körperlichen für uns tödlich. Man hat einfach unsere Flächen zerrissen und uns zerstört. Daher ziehen wir es mittlerweile vor, uns nur mehr vertrauenswürdigen Körpern zu zeigen.«
  Diese Erklärung leuchtete Lucy ein, und es schmeichelte ihr ungemein, dass die seltsamen Wesen gerade sie ausgewählt hatten. Also wollte sie den großen Erwartungen, die man bestimmt in sie setzte, auch vollends gerecht werden.
  »Bitte erzählen Sie mir, was Ihnen zugestoßen ist«, ermutigte sie den alten Herrn, der sich auf der Wandverkleidung hinter all den verschlungenen Linien verbarg.
  »Schreckliches ist uns widerfahren, entsetzliches Leid kam über uns«, begann der Flächenbewohner zu berichten. »Nun ist es unser Los, für immer auf Länge und Breite reduziert zu sein und zweidimensional in Mustern zu hausen!« Da hob er an zu weinen und Lucy sah aus seinen Augen einen hellen Kreis heraustreten, der an der Tapete hinablief. »Ich weiß, was wir taten, war falsch«, räumte er ein. »Was dann aber mit uns geschah, was wir uns sozusagen selbst zufügten, übertraf die pessimistischsten Prognosen, die schlimmsten Visionen und alles bisher Dagewesene. Es bannte uns auf Flächen und machte jede Materie zunichte. Der Tod wäre besser für uns gewesen! - Ein Zeitalter nach dem anderen ist unterdessen verstrichen, und heute, Äonen später, haben wir uns mit diesem schäbigen Dasein abgefunden. Wie gerne würden wir unsere Fehler rückgängig machen! Doch das wird niemals möglich sein. Deshalb besteht unsere Existenzberechtigung allein darin, Sie vor den Experimenten zu warnen, die uns unumkehrbar ins Verderben stürzten.«
  »Welche Experimente meinen Sie?«, fiel Lucy dem Greis erschrocken ins Wort. Der mahnende Unterton in seiner Stimme weckte in ihr ein Unbehagen, wenn nicht sogar Angst.
  »Wir waren zu überheblich, dachten, Wissenschaft und Fortschritt hätten uns zu Göttern gemacht«, klagte der Alte. »Unsere Fähigkeiten schienen unbeschränkt zu sein«, schwärmte er stolz von den Errungenschaften seiner offenbar an ihrem übermäßigen Ehrgeiz gescheiterten Gesellschaft. »Wir beschäftigten uns mit den grundlegenden Naturgesetzen, erforschten das All zur Gänze und beeinflussten seine Entwicklung nach unseren Vorstellungen. Diese Experimente führten uns an die Grenzen des Möglichen und bald überschritten wir sie: Wir simulierten im Labor die Entstehung eines Universums. Alsdann hinterfragten wir die Vierdimensionalität der Raumzeit. Wir begannen unsere Experimente auf den Hyperraum auszudehnen. Zu Anfang bescherte uns die Arbeit auf jenem Gebiet ungeahnte Erfolge. Unser Wissen über Erde und Kosmos war umfassend, der daraus resultierende Gewinn für die Gesellschaft unschätzbar. Wir durchquerten die Galaxis in Nullzeit. Wir reisten durch Raum und Zeit. Wir waren die Herrscher des Weltalls!«, jammerte der Greis, erschöpft und sichtlich in Nostalgie versunken.
  Da meldete sich die seltsame Frau mit den funkelnden schwarzen Augen zu Wort, und ihre großen Nasenlöcher schrumpften und weiteten sich abwechselnd, während sie sich aufregte: »Was hat uns die Macht denn letztendlich gebracht? Was nützt uns jetzt das Wissen über die fernen Sternsysteme und den Urknall, wo wir hier zeitlebens an der Tapete kleben? Ich weiß noch gut, wie es anfing. Mitten im heißen Sommer war es, als wir merkten, dass etwas nicht stimmte. Überall in der Stadt bildeten sich Risse in den Straßen und unsere Roboter arbeiteten Tag und Nacht, um die entstehenden Spalten zu schließen.«
  »Ich sah das Unheil zum ersten Mal nahen, als ich Freunde besuchen ging«, schaltete sich der stirnlose Jüngling ein. »Der Weg hatte sich verlängert. Ich brauchte fast die anderthalbfache Zeit, um die gleiche Strecke zurückzulegen.«
  »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Lucy verwirrt. Was die drei seltsamen ebenen Gestalten da erzählten, erschien ihr reichlich absurd.
  »Die Erde blähte sich auf, meine Liebe!«, fiel die Frau gereizt ein.
  »Die Gravitation verlor ihre Kraft«, erklärte nun der alte Mann. »Blätter, die der Wind aufwirbelte, entschwanden einfach in den Weltraum. Die Atmosphäre löste sich von dem Planeten! Nur mit Hilfe unserer hoch entwickelten Atemmasken gelang es uns, dies zu überleben.«
  »Meine Katze ist elendig erstickt«, trauerte die Frau mit der schrägen Nase. »Dann hob sie ab und flog hinauf in den schwarzen Himmel wie alles, was nicht im Erdboden verankert war. Oh, es war so schaurig! Die Haftstiefel meiner Nachbarin versagten eines Tages - den Anblick werde ich nie vergessen. Ihr Wehgeschrei klingt mir bis in alle Ewigkeit in den Ohren.«
  »Die Erde entfernte sich von der Sonne. Sie raste durch die Milchstraße wie ein Geisterplanet«, berichtete der Jüngling betrübt.
  »Ach, wäre es wenigstens auf unser Sonnensystem beschränkt geblieben!«, klagte jetzt wieder der Greis. »Doch allmählich griff das Phänomen auf andere Sternsysteme über, und bald riss es nicht nur die gesamte Galaxis, sondern auch das ganze Raum-Zeit-Gefüge auseinander.«
  »Nun flunkern Sie aber! Das Universum existiert ja selbst heute noch, und das seit immerhin ungefähr fünfzehn Milliarden Jahren«, warf Lucy zweifelnd ein. Die Leute aus der zweiten Dimension wollten ihr offensichtlich einen Bären aufbinden.
  »Fünfzehn Milliarden Jahre! Hahaha!«, lachte daraufhin die versammelte Schar.
  »Was sind schon fünfzehn Milliarden Jahre!«, rief der Greis erheitert.
  »Wollen Sie etwa behaupten, dass Sie aus einer Zeit vor dem Urknall stammen?«, entrüstete sich Lucy kopfschüttelnd.
  »Es gab keine Zeit vor dem Urknall«, belehrte sie der Alte.
  »Das weiß ich auch!«, entgegnete Lucy trotzig. »Aber wie soll ich Ihre Ausführungen denn sonst verstehen?!«
  »Wir lebten in einer anderen Welt, die der jetzigen ziemlich ähnlich war«, meinte er. »Wir zerstörten sie - zwar nicht mutwillig, doch wir taten es mit eigener Hand.«
  Lucy hatte kein Interesse mehr an den von Selbstmitleid und Reue triefenden Moralpredigten. Sie wollte eigentlich nur herausfinden, wie die hoch entwickelte Gesellschaft auf der Tapete gelandet war. »Wohin trieb denn nun diese aufgeblähte Erde in jener aus den Fugen geratenen Welt?«, begehrte sie zu wissen.
  »Sie brach auseinander und löste sich in ihre Bestandteile auf. Alles zersetzte sich: die Sterne und Planeten, jeder Körper, selbst Moleküle und Atome. Es blieb bloß eine Suppe aus Masse und Strahlung - und unserem Geist.« Beinahe beschwörend sagte der Alte: »Ein solch überragender Geist wie der unsere verpufft nicht einfach im Nirgendwo! Mochte auch das Licht erloschen sein, so irrten wir eben körperlos durch den Kosmos auf der Suche nach einem geeigneten Platz für ein letztes Experiment.«
  »Was für ein Experiment?«, fuhr Lucy erschrocken in die Höhe. Aufrecht saß sie jetzt in ihrem Bett. Ihr fiebernder Körper war schweißnass und kalt. Sie starrte auf die Tapete an der gegenüberliegenden Zimmerwand, wo der greise Mann in ruhigem Ton seinen Bericht fortsetzte: »Das ultimative Experiment diente der Erschaffung eines neuen Universums aus dem energiegeladenen Schaum - dem Chaos, das wir hinterlassen hatten.«
  »Wie ein Phönix aus der Asche!«, schoss es Lucy durch den Kopf. »Wir sind aus Ihren Überresten entstanden?«, empörte sie sich.
  »So könnte man es nennen, jedoch der Begriff ist nicht besonders nett«, wiegelte die Frau ab. »Wir halfen kräftig nach bei der Geburt dieses Weltalls. Sie sind sozusagen unsere Kinder und die Erde ist unser Haus. Also passen Sie gut darauf auf!«, forderte sie barsch.
  »Sie sind eigennützig allesamt!«, rief Lucy verstimmt, denn sie hegte einen dunklen Verdacht. »Sie schufen dieses Universum nicht, um anderen Spezies die Chance zu geben, die Sie den Mitbewohnern in Ihrer alten Heimat vorenthielten. Nein! Sie gedachten sich in jenem neuen Weltraum selbst niederzulassen und diesen ebenso zu beherrschen wie ehedem!«
  »Vortrefflich geraten, Miss!«, krächzte der Greis.
  »Wie wahr, meine Liebe!«, bestätigte die Frau.
  »Doch etwas ging schief!«, folgerte Lucy.
  »Unsere Berechnungen waren fehlerhaft«, räumte der Jüngling ein.
  »Das Experiment nahm einen unerwartet chaotischen Verlauf«, jammerte die Frau. »Kein Wunder! Schließlich gab es keine Testreihe, keine Möglichkeit für Nachbesserungen. Alles musste beim ersten Mal gelingen.«
  »Und es ist uns ja geglückt, oder?«, ermunterte der Greis die Kranke zu einem Lob.
  Lucy Bradshaw aber war zu müde und zu schwach. Das Gespräch mit den sonderbaren Leuten auf der Tapete hatte sie viel Kraft gekostet. Schlaff sank sie in die Kissen zurück.
  »Wir haben zwar eine räumliche Dimension verloren, doch unser Geist ist lebendig und unsterblich!«, rief der Jüngling keck dazwischen. Lucy mutete es fast wie eine Drohung an.
  »Seien Sie uns nicht böse, wenn unser Verhalten etwas grob und herablassend war«, sagte der Greis versöhnlich. »Es war sehr nett, mit Ihnen zu plaudern. Wir würden das gerne irgendwann fortführen.«
  »Ja, ja!«, pflichteten die anderen ihm bei und der Hund mit dem einen Schlappohr bellte.
  »Wir müssen Ihnen noch etliches mitteilen, Miss«, kündigte der Alte an. »Wir werden Ihnen erklären, welche Experimente gefährlich werden könnten und von welchen Dingen die Menschheit besser die Finger lassen sollte, denn wird die Tür in unsere Heimatwelt erst einmal geöffnet, dann setzt auch hier die unvermeidliche Zerstörung ein und pflanzt sich bis in den letzten Winkel des Kosmos fort.«
  »Für heute ist es genug«, unterbrach ihn die Frau. »Siehst du nicht, dass das Mädchen Erholung braucht?«
  »Ich werde mich gern wieder mit Ihnen unterhalten«, versprach Lucy. »Auf unsere Wissenschaftler und die Entwicklung neuer Technologien habe ich allerdings keinen Einfluss. Ich glaube, da sollten Sie sich an jemand anders wenden - an führende Physiker, Politiker und so weiter ...« Das Sprechen fiel ihr immer schwerer. Sie wollte noch etwas sagen, aber die Zunge gehorchte ihr nicht mehr. Die Lippen klebten förmlich zusammen und ihr drehte sich alles vor den Augen.
  »Was haben Sie nur, meine Liebe?«, hörte Lucy die sorgenvolle Stimme der Frau.
  »So reden Sie doch, Miss!«, forderte der Alte.
  »Kann man Ihnen irgendwie helfen?«, fragte der junge Mann.
  Lucy schloss die Augen. Ihr kranker Körper herrschte bald über ihren Willen. Wie gelähmt lag sie in ihrem Bett. Tausend Farben schwirrten ihr durch den Kopf und Bilder zogen eilends vorbei. Die Stimmen drifteten weg von ihrem Ohr und vermischten sich zu einem Hintergrundgeräusch, das mit dem Pulsieren der Adern in ihrem schmerzenden Schädel eins wurde.


* * *

  Vier Wochen später saß Lucy aufrecht am Bettrand. Zum ersten Mal seit Monaten fühlte sie sich halbwegs gesund. Das Fieber war mittlerweile gefallen, und die Ärzte meinten, dies sei ein gutes Zeichen und die Krisis der heimtückischen Krankheit sei nun endgültig überwunden. Man hatte ihr sogar die Erlaubnis erteilt, aufzustehen und etwas im Zimmer auf und ab zu gehen, wovor ihr aber ein wenig graute, denn die vielen Wochen, die sie nur liegend, träumend und schlafend verbracht hatte, mussten unweigerlich an ihren Kräften gezehrt und Spuren hinterlassen haben.
  Erwartungsvoll drehte Lucy den Kopf nach rechts. Sie richtete ihre Blicke auf die gegenüberliegende Wand und prüfte die Tapete. Als hätte es gerade erst stattgefunden, so lebendig war die Erinnerung an das Gespräch, das sie in der schlimmsten Phase ihrer Krankheit mit den seltsamen zweidimensionalen Wesenheiten geführt hatte. Noch immer sah sie die Konturen der Gesichter genau vor sich und die einprägsamen Stimmen klangen ihr in den Ohren. Wie oft hatte sie in den vergangenen Tagen, seit sich ihr Zustand stetig besserte, nach den selbst ernannten Göttern Ausschau gehalten! Doch so intensiv sie auch das florale Muster betrachtete, es wollte ihr nicht mehr gelingen, in den Linien, Kurven und Schattierungen menschliche Züge zu erkennen. Fast beruhigend wirkte auf sie die Erkenntnis, dass dies alles letztlich nur ein Hirngespinst war, ein von dem quälend langen und hoffnungslos anmutenden Siechtum hervorgerufenes Wahngebilde. Die Unterhaltung mit den grotesken Gestalten entpuppte sich im Nachhinein als Gespräch mit einer Tapete, und Lucy musste jetzt, wo sie nüchtern darüber nachdachte, über sich selbst lachen, denn mit diesem Lachen vertrieb sie ihre Furcht. Seit Tagen sagte sie sich, dass die Fieberphantasie bloß eine Manifestation ihrer eigenen Todesangst gewesen war.
  Lucy erhob sich vorsichtig. Sie spürte die Schwäche ihres abgemagerten Körpers. Um die kleine Welt ihres Krankenzimmers wenigstens in Gedanken für ein paar Minuten verlassen zu können, tappte sie, noch etwas wacklig auf den Beinen, zum Fenster. Endlich würde sie wieder in die Ferne schauen und nicht nur bis zu den grauen Fassaden vis-à-vis! So trat sie hin und sah hinab auf die Straße.
  Ihre Knie begannen zu zittern. Eiskalt wurden ihre Hände. Die Adern pochten in ihren Schläfen. Befand sie sich denn tatsächlich auf dem Wege der Besserung oder erlitt sie gerade einen schweren Rückfall in Gestalt eines neuen, völlig real wirkenden Fiebertraums? Entsetzt ließ sie ihre wachen Blicke rastlos die Straße entlangwandern - von Westen nach Osten, hin und her, von einem Horizont zum andern. Die beunruhigenden Bilder prägten sich ihr unauslöschlich ein, als sie ohnmächtig hinsank. Nie wird sie sie vergessen: überall feine Risse im Boden, auf den Gehwegen und der Fahrbahn, zahllose Bautrupps, die breitere Spalten verfüllten, das brüchige Mauerwerk der gegenüberliegenden Häuserzeile - Abgründe, so weit das Auge reichte.

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